Afghanistan

Ein Interview mit dem südafrikanischen Fachmann für strategische Fragen und Diplomatie, Dr. Haschim Dockrat

IZ: Herr Dr. Dockrat, die jetzigen Ereignisse in Afghanistan erfordern einen neuen Blick auf das Land am Hindukusch. Könnten Sie uns kurz Ihre Sichtweise auf das Phänomen Afghanistan geben?

Dr. Dockrat: Wenn man als Muslim die Situation in Afghanistan wirklich verstehen will, so sollte man sich hüten, den jetzigen Konflikt ausschließlich im Lichte der politischen Ereignisse nach dem sowjetischen Einmarsch 1979 zu betrachte n. Diese Perspektive führt zur kompletten Verdrängung der Geschichtlichkeit Afghanistans und der Verhaltensmuster seiner Bevölkerung. Das Phänomen Afghanistan steht für die Depression einer Gesellschaft, die gefangen ist im krank haften Wunsch, ihr eigenes Blut zu vergießen. Die Afghanen, die früher berühmt waren für ihr Kämpfertum und ihre Unverwüstlichkeit, gehen nun zugrunde am gegenseitigen Haß.





IZ: Wo liegen die Hintergründe für dieses - doch eigentlich wahnsinnige - Verhalten eines Teils der afghanischen Muslime?

Dr. Dockrat: Es verbergen sich zwei tieferliegende Phänomen hinter dem gemeinschaftlichen Wahnsinn in Afghanistan. Wie bei allen Konflikten dieser Natur liegen die Ursachen eher im Verborgenen. Das erste Phänomen ist der ein Jahrhundert währende Versuch, Afghanistan in einen modernen Nationalstaat, oder genauer gesagt, einen Fiskalstaat zur Erhebung von Steuern und Abgaben umzuwandeln. Die Geographie, die Verschiedenheit der einzelnen Völker und der Bevölkerungsdichte, li eßen diesen Versuch schon im Beginn scheitern.  Geschichtlich dem ersten nachfolgend ist das zweite Phänomen: das Heraufziehen des Fundamentalismus in seiner extremsten Ausprägung als "Talibanismus", der es den Spielern des "Großen Spiels" ermöglicht, au ch ohne eigene Armeen, Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Mehr noch, es soll eindeutig das Entstehen eines Islams verhindert werden, der fest auf dem Qur'an und der Sunna basiert. Dem Fundamentalismus weltweit ist es verdächtigerweise, trotz seines furchterregenden Namens, nicht gelungen, den Methoden des modernen, konstitutionellen und
fiskalischen Staates zu entkommen. Interessanterweise will er dies offensichtlich nicht.

IZ: Sie erwähnten den Begriff des "Großen Spiels". Können Sie ihn erläutern und in den Zusammenhang Ihrer Betrachtung stellen?



Dr. Dockrat: Afghanistan war immer der Zankapfel großer Mächte, die sich um die Kontrolle wertvoller Handelsrouten und Militärstraßen stritten. Für die Lenker der großen Reiche bedeutete das Land am Hindukusch dahe r immer eine wertvolle Beute. Entweder benutzten es die Herrscher des Westens als Vorland ihrer reichen Provinzen oder die Fürsten am Indus als Glacis gegen Angriffe einfallender Eroberer aus dem Norden oder Westen. Als eigentlicher Besitz hatte Afghanistan immer einen geringen Wert. Die Loyalitäten der Stämme entsprachen immer dem Wert  der Geldbörse des jeweils amtierenden Gouverneurs.

 
Fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, kämpften die damals größten Reiche - das viktorianische Großbritannien und das zaristische Rußland - einen geheimen Krieg in einsamen Pässen und Wüsten Zentralasiens und Afghanistans. In diesem stillen Krieg wurde der Begriff des "Großen Spiels" von dem britischen Autoren Kipling in seinem bekannten Buch "Kim" geprägt.

IZ: Waren die afghanischen Stämme immer zerstritten und verfeindet?




Dr. Dockrat: Nein. Das Heraufziehen des Islam brachte einen  gewissen Grad an Zusammengehörigkeit. Dies galt besonders für diejenigen Perioden, in denen starke Emirate oder Sultanate auf den Plan traten und ein Miteinander der Stämme erzwangen. So unangenehm es klingen mag, Afghanistan war in der Regel nur dann eine starke Einheit, wenn es den Status einer auswärtigen Provinz besaß. Sich selbst überlassen, wurden die Afghanen nur zu oft willige Pfänder im Großen Spiel Gegen einen fremden Angreifer - die Briten oder Sowjets - standen die Muslime des Landes wie ein Mann zusammen. Der antikommunistische Widerstand der Afghanen war für die gesamte muslimische Welt   motivierend. Als jedoch Gulbuddin Hekmatjar in den frühen 80er Jahren gefragt wurde, ob der Kampf der Mudschaheddin in Afghanistan wirklich als Dschihad geführt werde, verneinte er dies. Alle Parteien waren in einem nationalistischen Kampf verstrickt. Keine nationalistische Regierung kann eine wirklich islamische sein. 

IZ: Als was würden Sie die jetzige Situation bezeichnen, da ja die alten Kolonialreiche offensichtlich nicht mehr existieren?



Dr. Dockrat: Der Begriff des "modernen Imperialismus" trifft sicherlich am besten auf die herrschende Lage in Afghanistan zu.  Hätten die Mudschaheddin wirklich einen Dschihad geführt, so hätten die Waffen nach dem Abzug der Kommunisten schweigen müssen, so aber richteten sie sie gegen ihre eigenen Leute und die Anzahl der Vertriebenen, der verkrü ppelten Frauen und Kinder wuchs unaufhörlich. Läßt man die emotionelle Betrachtung der Kämpfe gegen die Sowjets außer acht, so war dies bloß die Fortführung des "Großen Spiels" mit anderen Mitteln. Hie rbei wurden die Engländer nur von den Amerikanern abgelöst. Der Rückzug der Russen war eine logische Folge des natürlichen Endes des Kommunismus. Der Kommunismus hat auch hier die Rolle erfüllt, die ihm von den globalen Finanzinstitutionen zugedacht wurde. Es wurde notwendig, die Afghanen einen langwierigen Krieg gegen die Russen führen zu lassen, um sie dann später in einen blutigen Bürgerkrieg zu treiben, falls die Schäden an der Infrastruktur des Landes noch nicht hoch genug s ein sollten. Anschließend wurde es notwendig, einen Verbündeten innerhalb Afghanistans zu finden, der die Schemata der Finanzwelt erfüllte. Logischerweise würde diese Partei dann IWF- und Weltbankkredite anfordern und erhalten, die die langfristige Verschuldung des afghanischen Volkes zu Folge haben werden. Ebenso wird die Steuerpolitik des Landes und die Kontrolle über die gesamte Politik auswärtigen Interessenvertretern überantwortet.

IZ: Was treibt die von Ihnen beschriebenen ausländischen Akteure zu diesen doch aufwendigen Maßnahmen, wenn Afghanistan als solches nicht von großem Wert ist?



Dr. Dockrat: Afghanistan ist einer der Zugänge zum Reichtum Zentralasiens, welches die größten unerschlossenen Vorkommen an Gold, Erdöl und Erdgas besitzt. Diese türkische Region wird bald einer der größten Kon sumentenmärkte der Welt sein. 
Verhindert werden soll eine feste Verbindung der türkischen Muslime zu ihren verwandten Brüdern in Zentralasien. Dies würde sowohl ein Erstarken des Islam in der Türkei verhindern, als auch den Aufstieg der Türkei zu einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. 1996 wurden allein in Istanbul durch den Handel mit den zentralasiatischen Staaten 270 Milliarden DM umgesetzt.

IZ: Wie sehen die Planungen der Mächte aus, die den Aufstieg der Taliban maßgeblich gefördert haben?



Dr. Dockrat: Geplant ist die Schaffung eines Handelsweges, der über Afghanistan und Pakistan an die Häfen des Indischen Ozeans verläuft. Mittlerweile ist die Projektierung und Organisation des Baues von Pipelines und Straßen i n vollem Gange. Profiteure sind neben den Taliban, Pakistan, Saudi Arabien, Turkmenistan schließlich die USA, die sich die Kontrolle der zukünftigen Energiereserven der Welt sichern wollen. Die neue Durchgangspforte für den Handel wür de den Graben zwischen den Muslimen der Türkei und Pakistan noch verbreitern. Beide Nationen sind die potentiellen Führer der Muslime im nächsten Jahrhundert.

IZ: Wie würden Sie die Taliban beschreiben, die doch erst vor kurzem die Bühne der politischen Ereignisse betreten haben?


Dr. Dockrat: Erinnern wir uns, wer wäre im heutigen Afghanistan der beste Verbündete des nichtmuslimischen Mächte? Es wäre diejenige Gruppierung, die einerseits die Kontrolle des afghanischen Reichtums in fremde Hände legt und andererseits den Islam so stark verleumdet, daß er für alle Menschen hassenswert wird. Die Taliban wurden als Söldnerarmee der USA, Pakistans und Saudi Arabiens von der Leine gelassen. Ihre Einheiten sind gut trainiert und ausgerüstet worden. Sie haben die Aufgabe, die Interessen ihrer Auftraggeber zu sichern und wieder einmal Verirrung über den Islam in die Welt zu setzen. Die Amerikaner ließen alle barbarischen Akte der Taliban geschehen, so das Verprügeln von F rauen auf offener Straße, wurden aber sehr schnell nervös, als die Führung der Taliban einmal kurz das System der Banken in Frage stellte. Führende Fuqaha der Sunna sind sich sicher, daß nun der Talibanismus in die Welt exportiert werden soll. Dies ist nichts anderes als ein Anti-Islam, produziert in amerikanischen Hochschulen und der Universität von Medina, den beide n geistigen Polen der anti-islamischen Aktivitäten unserer Zeit. 


IZ: Wie sieht das Verhältnis der Taliban zu den Lehren des Islam aus?

Dr. Dockrat: Der Talibanismus ist ein schweres Mißverständnis des Islam. Ihre Führer sind keine 'Ulama sondern Khawaridsch. Sie schlagen Frauen, obwohl der Islam eindeutig nicht frauenfeindlich ist. Sie zeigen keinen Respekt gegen& uuml;ber Frauen, obwohl der Prophet, Friede und Segen auf ihm, dies geboten hat. Sie vertreten eine Form Hinduismus, genauer gesagt unitarischer Brahmanismus. Sie zerstören Fernsehanlagen und erhängen Videobänder. Sie schlagen Männer ohne Bart, obwohl dies keine Strafe der Schariah nach sich zieht.
Die Rechtsprechung des Herrschers (Wilajat) hängt am Einfluß seiner Macht ('Amr). Diese Macht wird vom Islam in der Scharia geordnet und sanktioniert und begrenzt durch Allah. Der Anspruch der Taliban, ihr Führer sei Amir al-Mumi nin (Khalif), entbehrt jeder Grundlage, da sie - wie jede andere Fraktion in Afghanistan auch - versuchen, einen Nationalstaat zu etablieren. Die Idee des Nationalstaates ist aber kein Konzept der islamischen Regierung.
Als letzter und schwerwiegender Punkt: auf welcher islamischen Grundlage töten die Taliban und andere unterschiedslos Frauen, Kinder und alte Männer in ihren Fehden, wo diese doch durch die
islamischen Regeln des Krieges geschützt s ind. Indem die Taliban den Dschihad gegen alle anderen Muslime erklärt haben, begaben sie sich in die lächerliche Position, alle Muslime, die nicht ihrem
Wahnsinn folgten, zu Kafirun zu erklären.

IZ: Dr. Dockrat, sehen sie in dieser Lage einen Ausweg für die Führung der gutwilligen Muslime des Landes?

Dr. Dockrat: Ein mutiger und intelligenter Kommandeur würde die Lage Afghanistans auf zwei Ebenen betrachten. Dies wäre die taktische Ebene - das Schlachtfeld - und die strategische. Der
strategisch handelnde Führer müßte die Sympathien Pakistans erwerben, sich auf engere Zusammenarbeit mit der Türkei, dem Kaukasus und Zentralasiens zubewegen. Er muß intelligent genug sein einzusehen, daß die globale Finanzwelt mit Krediten und nicht mit
Gewehrkugeln oper iert. 
Je schneller die geschwächten Söhne Afghanistans den letzten Punkt begreifen, desto schneller wird der Wahnsinn des Blutvergießens aufhören. Und sie werden begreifen, daß Afghanistan eine Erfindung der Briten ist.

Quelle: Islamische Zeitung, 24 Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

 

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