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Tschetschenien-
Krieg ohne Ende?
Das
Geiseldrama von Moskau hat nicht nur Russland einen Schock versetzt - es hat die Welt
erschüttert. Doch eines ist klar: Durch diesen Kamikaze-Anschlag ist auch der
Tschetschenien-Krieg wieder in die weltweiten Schlagzeilen zurückgekehrt. Präsident
Putin kann jetzt die Wahrheit nicht mehr ignorieren: In Tschetschenien tobt nach wie vor
der Krieg.
Seit den Zeiten Iwans des Schrecklichen (1547-84) haben die russischen Zaren versucht, das
Siedlungsgebiet der Tschetschenen im Kaukasus unter ihre Kontrolle zu bringen. Das
zaristische Russland hatte die Bergvölker der Kaukasus-Region in einem fast achtzig Jahre
währenden Krieg mit aller Brutalität in seinen Herrschaftsbereich integriert, in großem
Umfang vertrieben, gewaltsam umgesiedelt und letztendlich deportiert. Repressalien und
Deportationen setzen sich in der stalinistischen Periode fort. Die Tschetschenen erleben
die Besetzung ihrer Heimat als gewaltsame Kolonialisierung. Wut und Hass auf Russland
wurzeln tief.
Erster Tschetschenien-Krieg
Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind nicht gelöste Probleme wieder aufgebrochen.
Tschetschenien dient den bei der Privatisierung reich gewordener russischen Finanzclans
als Drehscheibe für ihre milliardenschweren Geschäfte mit dem Ausland. Hier gibt es
keinen Zoll und absolut keine Wirtschaftskontrolle. Der erste Tschetschenien-Krieg wird,
so alle Hinweise, dadurch ausgelöst, dass der erste Präsident Tschetscheniens - Dudajew
- die Gewinne nicht mehr mit mit den russischen Finanzclans teilen will. Im November 1991
erklärt sich Tschetschenien einseitig für unabhängig. Mit der Abspaltung
Tschetscheniens droht Russland ein großer Einflussverlust: Durch das kleine Land
verläuft nicht nur die Ölpipeline von Baku nach Noworossijsk. Es ist zugleich Russlands
wichtigster wirtschaftlicher Knotenpunkt im Kaukasus. Es geht um Macht und Geld. 1994
marschieren russische Truppen in Tschetschenien ein. Der Krieg kostet 6.000 russischen
Soldaten und etwa 50.000 tschetschenischen Zivilisten das Leben. Der Krieg endet mit einer
schmachvollen Niederlage Moskaus nach fast zwei Jahren im August 1996. Nach Kriegsende
bessert sich die Lage nicht. Im Gegenteil: Kriminalität und Anarchie breiten sich aus.
Zweiter Tschetschenien-Krieg
Im Herbst 1999 spitzt sich die Situation erneut zu, als die russische Regierung Grosny
vorwirft, in der benachbarten Republik Dagestan eine Rebellion gegen Moskau angezettelt zu
haben. Fast zeitgleich sterben bei Anschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk
fast 300 Menschen. Russische Sicherheitsbehörden machen tschetschenische Rebellen für
die Anschläge verantwortlich, wenngleich Beweise - bis heute - fehlen. Die
Putin-Regierung greift die unabhängige Republik ein zweites Mal an. Wieder sterben
Zehntausende, aber dieses Mal gewinnen die besser vorbereiteten russischen Truppen gegen
die Rebellen die Oberhand. Sie müssen aus dem restlos zerbomten Grosny in die
Kaukasusberge flüchten. Moskau erklärt die Republik offiziell für befriedet.
"Säuberungen"
Doch der internationale Unmut wächst mit den Berichten über Gräueltaten. Russischen
Soldaten wird vorgeworfen, Dörfer zu "säubern", Tschetschenen zu verschleppen,
hinzurichten und für die Rückgabe von Leichen an Angehörige auch noch Geld zu
verlangen. Auch in zahlreiche Korruptionsfälle ist das russische Militär verwickelt.
Renten und Kindergeld etwa werden in Tschetschenien tatsächlich wieder ausgezahlt. Nur
nützt dies den Empfängern wenig, wenn ihnen nachts maskierte russische Einheiten das
Geld wieder abnehmen.
Schweigender Westen
Zwar sind mittlerweile zwei Drittel der Russen gegen diesen Konflikt. Doch sie schweigen.
Die große Mehrheit der Russen ist mit der Sicherung des eigenen Überlebens beschäftigt.
Um so mehr steht der Westen in der Pflicht zu versuchen, den Krieg zu beenden. Doch seit
dem 11. September hat die westliche Staatengemeinschaft ihre Kritik am
Tschetschenien-Krieg gemildert, und Putin sieht sich in seinem
"Anti-Terror-Krieg" bestätigt. Gewonnen hat er ihn jedoch längst nicht.
Quelle:
N-TV, 28.10.2002
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