A.
Definitionen
Scharia
Schari'a ist ein arabischer Begriff und bezeichnet
linguistisch den klaren Weg.
Im Islamischen Wertesystem umfaßt Scharia die
Gesamtheit der im Quran und der Sunna (Vorbild und Aussprüche des Gesandten) enthaltenen
Gebote und Leitlinien ALLAHs für die Muslime, welche die verschiedensten Lebensbereiche
betreffen.
Wesentliches Merkmal der Schari'a ist ihr prinzipiell allumfassender
und zeitloser Charakter.
Scharia beschäftigt sich somit mit allen Bereichen der
islamischen Lebensweise, wie sie ALLAH (taala: Der Erhabene) für die Menschen
angeordnet hat:
mit der spirituellen / ethischen Ebene (Iman, Iman-Inhalte, Ethik- und
Morallehre) sowie
mit der profanen / praktischen Ebene (gottesdienstliche Handlungen,
Zivilrecht, Familienrecht und andere juristische Bereiche)
Ziel der Schari'a ist es, den Geschöpfen den Weg zur Erkenntnis ALLAHs
aufzuzeigen, um aus dieser Erkenntnis heraus zu handeln.
Fiqh
Fiqh ist ein arabischer Begriff und bezeichnet linguistisch
die Erkenntnis, das Verstehen, Einsicht haben in etwas.
Fiqh im islamischen Kontext bezeichnet einen wissenschaftlichen
Teilbereich der Scharia.
Fiqh beschäftigt sich mit der Methodik der Ableitung von Scharia-Normen
(Idschtihad), die das Tun, das praktische Handeln im Alltag betreffen, insbesondere
beschäftigt sich der Fiqh mit den gottesdienstlichen Handlungen, mit Familienrecht,
Zivilrecht, Strafrecht, Finanz- und Wirtschaftsrecht, Völkerrecht, etc.
Idschtihad bedeutet wörtlich sich bemühen, sich anstrengen
Idschtihad bezeichnet im Kontext des Fachbereiches Fiqh somit
- das Bemühen um die Bildung eines selbständigen Urteil in einer
Rechtsfrage bzw.
- die Entfaltung selbständiger rechtlicher Erwägungen in Fällen, in
denen keine eindeutigen Quellentexte zur Verfügung stehen.
Nach der Methodik des Fiqh erfolgt Idschtihad (die Ableitung der
Normen) für die genannten Teilbereiche der Scharia unter Bezug auf Quran- und
Sunna-Texte sowie unter Anwendung der von der Scharia zugelassenen Modi (Idschma/Konsens,
Qiyas/Analogieschluß, usw.)
Der Interpretationsspielraum, der bei dieser selbständigen
Urteilsfindung (unter Beachtung aller Regeln) durch die islamischen Gelehrten ausgenutzt
werden konnte, führte wegen der individuell unterschiedlichen Verfahrensweise und der
unterschiedlichen Denkansätze zur Entwicklung verschiedener Denkrichtungen bzw.
akademischer Lehrmeinungen, die als Fiqh-Schulen bezeichnet werden (s. u.).
Die Fiqh-Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit der spirituellen und
ethischen Ebene des Lebens wie den Iman-Inhalten und der Ethik- und
Morallehre, da die Scharia-Normen in diesen Bereichen auf eindeutigen Quellentexten
beruhen, die eine selbständige Urteilsbildung ausschließen.
In der Hermeneutik wird Fiqh definiert als: Das Wissen über die
praxisbezogenen Scharia-Normen, die aus den detaillierten Quran- und Sunna-Texten
abgeleitet sind.
Somit wird Fiqh von den Fiqh-Wissenschaftlern definiert als: Die
Erkenntnis über die praxisbezogenen Scharia-Normen, die durch Idschtihad gewonnen
werden.
Scharia-Normen
Die Scharia-Normen können nach den Texten der o. a. Quellen, von
denen sie abgeleitet sind, in zwei Kategorien unterteilt werden:
Qat'i-Normen (qat'i: wörtl. bestimmt, definitiv, endgültig)
Zanni-Normen (zanni: wörtl. wahrscheinlich)
1. Qat'i-Normen
Darunter versteht man Normen, die auf eindeutigen Texten aus Quran
und Sunna beruhen und keiner Interpretation bedürfen.
Über die Verbindlichkeit und die Verpflichtung zur Einhaltung dieser
Normen besteht allgemeiner Konsens unter allen Islamischen Gelehrten.
Diese Normen behandeln vorrangig den Bereich der Aqida
(Iman-Inhalte und Artikel) und der gottesdienstlichen Handlungen und umfassen nur einen
Teil der Scharia-Normen.
2. Zanni-Normen
Darunter versteht man Normen, die von nicht-eindeutigen Texten aus
Quran und Sunna oder durch selbständige Urteilsfindung (Idschtihad) mit Hilfe der
Schari'a-Modi abgeleitet werden.
Diese Fiqh-Normen regeln vorrangig Bereiche, die in Quran und Sunna
nicht eindeutig, nicht detailliert oder aber gar nicht angesprochen werden.
In diesen Bereichen haben die Fiqh-Wissenschaftler die Möglichkeit,
Vorschriften zu konkretisieren oder gar zu ergänzen. Somit war und ist es möglich, daß
verschiedene Fiqh-Gelehrte durch eigene Interpretation bei der gleichen Fragestellung zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dieses Prinzip war die Grundlage für die Entstehung
der verschiedenen Fiqh-Schulen (s. u.).
Die Zanni-Normen behandeln vorrangig den Bereich der alltäglichen
profanen Handlungen und umfassen den größeren Teil der Scharia-Normen. Sie werden
nach dem Modus der Interpretation und der zugrundeliegenden Quelle in zwei Gruppen
unterteilt:
a) Zanni-Normen, die von Fiqh-Gelehrten aus nicht-eindeutigen
Schari'a-Texten aus Quran und Sunna abgeleitet werden; d. h. aus Quellen, die mehrere
Interpretationen zulassen und deswegen von den verschiedenen Fiqh-Gelehrten
unterschiedlich ausgelegt werden können.
Beispiel:
Die quranische ganz allgemein gehaltene Anweisung, während der
Gebetswaschung mit nassen Händen über den Kopf zu streichen, wird in den verschiedenen
Fiqh-Schulen unterschiedlich interpretiert. Die Unterschiede liegen hier in der
detaillierten Handlungsanweisung für diese allgemeine Fiqh-Norm.
- Nach Imam Malik und Imam Ibnu-hanbal ist die Benetzung des gesamten
Kopfes Pflicht.
- Nach Imam Abu-hanifa und Imam Asch-Schafi'i ist die Benetzung nur
eines Teiles des Kopfes Pflicht.
In beiden Fällen hat der Muslim die vorgeschriebene Pflicht der
Benetzung erfüllt.
b) Zanni-Normen, die von Fiqh-Gelehrten durch Idschtihad
hergeleitet werden; d. h. Herleitung durch eigene Urteilsfindung und ohne eindeutige
Quelle mit Hilfe der Schari'a-Modi.
Beispiel:
Die Möglichkeit der Scheidung einer Frau, deren Ehemann vermißt
wird:
- Nach Imam Asch-Schafi'i und Imam Abu Hanifa kann eine Frau von ihrem
vermißten Ehemann erst dann durch einen islamischen Richter geschieden werden, wenn alle
Altersgenossen des Ehemanns verstorben sind. Damit sei die Wahrscheinlichkeit gegeben,
daß auch der Ehemann nicht mehr am Leben sei. Nach Meinung dieser Juristen muß der
Vermißte wie ein Lebender behandelt werden, da sein Tod nicht bewiesen ist.
- Nach Imam Malik hat die Frau des Vermißten das Recht, nach Ablauf
einer festgesetzten Frist, bei Gericht die Scheidung einzureichen. Die Frist beträgt in
Friedenszeiten vier Jahre und in Kriegszeiten ein Jahr. Damit werden die Interessen der
Frau gewahrt und eventuelle Nachteile für die Frau vermieden.
B. Die Fiqh-Schulen (arabisch: Al-mazahibul-fiq-hiya)
Wie aus der Bezeichnung Al-mazahibul-fiq-hiya
ersichtlich wird, handelt es sich bei den sog. Fiqh-Schulen (im Westen: Islamische
Rechtsschulen genannt) lediglich um Denkrichtungen bzw. akademische Lehrmeinungen
in Rechtsfragen, die sich durch die individuell unterschiedliche Verfahrensweise und
die unterschiedlichen Denkansätze der islamischen Gelehrten bei der Ausarbeitung von
Prinzipien zur Ableitung von Normen und Regeln für das alltägliche Handeln aus den
sog. Beweisquellen entwickelten.
Der Fachbereich Fiqh-Wissenschaft bzw. die in ihr entstandenen
Fiqh-Schulen können und dürfen auf keinen Fall als Glaubensrichtungen im Islam
oder islamische Konfessionen oder gar Sekten bezeichnet werden, da sich dieser
Fachbereich expressis verbis nicht mit den grundlegenden Iman-Inhalten, Glaubensinhalten
des Islam beschäftigt.
Die Fiqh-Schulen repräsentieren akademische Lehrmeinungen in
Fiqh-Fragen auf der Basis von Variationen der Methodologie, d. h. Variationen der
wissenschaftliche Verfahrensweise zur Ableitung/ Idschtihad von Scharia-Normen für
das praktische Handeln im Alltag.
Die folgende Darstellung bezieht sich wegen der geringen Zahl der
Schiiten in Hessen ausschließlich auf die sunnitischen Fiqh-Schulen (ca. 95% der Muslime
in Hessen).
Die historische Entwicklung der Fiqh-Wissenschaft
1. Phase
Periode des Gesandten Muhammad (sallal-lahu alaihi wa
sallam) (gestorben 10 n. H.)
Zu Lebzeiten des Gesandten Muhammad (sallal-lahu alaihi wa
sallam) lag die Autorität zur Erläuterung und zum Erlaß von Scharia-Normen
einzig in seiner Person. Seine Anordnungen hatten Gesetzescharakter und wurden von den
Muslimen akzeptiert und umgesetzt.
Im Laufe der Zeit wuchs die islamische Gemeinde und damit ergab es
sich, daß nicht alle Muslime sich ständig in unmittelbarer Nähe des Gesandten aufhalten
konnten, um ihn in Zweifelsfällen nach der richtigen Verhaltensweise in bestimmten
Situationen des täglichen Lebens zu befragen. Dies war außerdem zwangsläufig der Fall
bei Personen, die sich auf Reisen befanden oder weit entfernt von Mekka wohnten.
Da es im Alltag immer wieder Situationen gab, die eine sofortige Aktion
erforderten, begannen die Muslime bereits zu Lebzeiten des Gesandten Muhammad (salla-llahu
alaihi wa sallam) in diesen Fällen selbständig Idschtihad zu praktizieren, d. h.
sie bildeten sich ihr eigenes Urteil unter Berücksichtigung aller ihnen bekannten Texte
und handelten danach. Bei späteren Zusammentreffen mit dem Gesandten erstatteten sie ihm
dann Bericht über ihre selbständig gefällten Entscheidungen, woraufhin der Gesandte den
jeweiligen Einzelfall beurteilte und die Entscheidungen der Muslime entweder bestätigte
oder aber korrigierte.
Ein Verbot des Idschtihad (Selbsturteilsfindung) durch normale
Muslime wurde vom Gesandten jedoch niemals ausgesprochen, auch nicht bei gravierenden
Fehlentscheidungen.
2. Phase
Periode der Zeitzeugen bzw. Gefährten des Gesandten bis zum Tod der
vier Imame
Mit dem Tod des Gesandten verlor die islamische Gemeinde ihre
Autorität zur Erläuterung und zum Erlaß von Scharia-Normen sowie ihren Ratgeber
bei allen Fragen und Problemen des Alltags.
Da jedoch auch weiterhin neue Probleme gelöst werden mußten,
praktizierten die Gefährten des Gesandten den Idschtihad weiterhin und entwickelten ihn
systematisch.
Diese Entscheidung zur Beibehaltung der Idschihad-Praxis war somit
indirekt die Ursache für die Entstehung der Fiqh-Wissenschaft und folglich der
Fiqh-Schulen.
Zwei wichtige Gründe gaben den Ausschlag für diese Entscheidung:
Nach dem Tod des Gesandten kam es in relativ kurzer Zeit zu einer
enormen Expansion des Islamischen Reiches. Dies hatte zur Folge, daß die noch junge
islamische Gemeinde erstmals mit neuen Gesellschaftssystemen und fremden Wertvorstellungen
konfrontiert wurde. Bei der Bewältigung des Alltags unter dem Einfluß dieses neuen
Umfeldes wurden Problembereiche berührt und Fragen aufgeworfen, die zu Lebzeiten des
Gesandten nicht bekannt waren und für die deshalb auch keine Lösungsansätze vorgegeben
waren, für die jedoch dringender Entscheidungs- bzw. Handlungsbedarf von Seiten der
Muslime bestand.
Innerhalb der islamischen Gemeinde und auch unter den Gefährten des
Gesandten war der Kenntnisstand über die Sunna des Gesandten sehr unterschiedlich, weil
a) nicht alle Gefährten sich ständig in unmittelbarer Nähe des
Gesandten aufgehalten hatten und somit nicht alle Scharia-Normen oder allgemeinen
Empfehlungen und Anweisungen kennen konnten und
b) die Möglichkeiten zur Behebung vorhandener Wissenslücken über die
Sunna zur damaligen Zeit eingeschränkt waren, wegen der noch nicht komplett vorhandenen
schriftlichen Aufzeichnung der Sunna und wegen fehlender Möglichkeiten zu
anderweitiger Informationsbeschaffung.
Die nun folgende Entwicklung der Praxis des Idschtihad vollzog sich in
den verschiedenen Regionen des Islamischen Reiches sehr unterschiedlich, weil die
Gefährten des Gesandten, bedingt durch die gravierenden politischen Veränderungen,
nicht mehr an einem Ort (in Madina) zusammenlebten, an dem sie sich jederzeit austauschen
konnten, sondern verstreut in teilweise weit voneinander entfernten Gebieten.
Wegen des individuell sehr unterschiedlichen Wissenstandes über die
Sunna, wegen der geographischen Entfernungen und der eingeschränkten Möglichkeiten
für einen Informationsaustausch und wegen der unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bedingungen vor Ort, entwickelten die Muslime in den verschiedenen Gebieten
unterschiedlichen Methoden des Idschtihad.
Erwähnenswert sind die beiden wichtigsten Schulen, die verschiedene
Methodologien entwickelt haben:
Hadith-Schule (madrastu ahlil-hadith)
Sie entwickelte sich auf der arabischen Halbinsel. Da die Bevölkerung
in dieser Region nicht so großen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen
ausgesetzt war, der Einfluß fremder Gesellschaftssysteme relativ gering war, die
räumliche Nähe zu den Zeitzeugen des Gesandten bzw. den Mitgliedern der ersten
islamischen Gemeinde gegeben war, wurden in diesem Gebiet zur Praxis des Idschtihad und
somit zur Entwicklung des Fiqh fast nur die Hadithe (Aussprüche des Gesandten)
herangezogen.
Schule der eigenständigen Meinung (madrastu ahlir-rai)
Sie entwickelte sich vor allem in Kufa/Irak. Die Muslime in dieser
Region lebten in einer von fremden kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen
dominierten Umgebung. Da die Anzahl der Gefährten dort wesentlicher geringer war als auf
der arabischen Halbinsel, waren die Kentnisse über die Sunna entsprechend geringer. Zur
Kompensation dieser Lücke wurde in diesem Gebiet zur Praxis des Idschtihad und somit zur
Entwicklung des Fiqh in größerem Maße logisches Denken und Analogieschluß
herangezogen.
Im Laufe der Zeit verringerten sich die Unterschiede zwischen den
beiden Schulen, da nach der Sammlung und schriftlichen Aufzeichnung der Hadith des
Gesandten und deren Verbreitung im islamischen Kulturraum die Informationsdefizite, welche
die Unterschiede mitverursacht hatten, größtenteils behoben waren.
In dieser Phase entwickelte sich der Fachbereich des Fiqh zu einer
eigenständigen Wissenschaft.
Unter den vielen hervorragenden islamischen Gelehrten, die als Experten
in diesem Fachbereich forschten und lehrten, erlangten vor allem die folgenden vier
Sunniten historische Bedeutung, weil die von ihnen vertretenen Lehrmeinungen zu
Fiqh-Fragen sich als sogenannte Fiqh-Schulen in der islamischen Welt etablierten:
Abu-hanifa Annuman Ibnu-thabith (gest. 767 n. Chr.)
Genannt Al-Imamul-azam, persischer Abstammung. Er etablierte die
Ra-i-Schule. Nach ihm ist die hanafitische Fiqh-Schule benannt, welcher die Mehrheit der
Muslime in Hessen angehört; z .B. Türken, Bosnier, Albaner, Pakistani, Inder, Bengalen
und viele arabische Muslime sowie die Muslime in den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Malik Ibnu-anas Al-asbahi (gest. 795 n. Chr.)
Genannt der Imam von Medina. Er vertritt in seinen Werken beide o. g.
Schulen. Nach ihm ist die malikitische Fiqh-Schule benannt, der vor allem die
Nordafrikaner: Marokkaner, Tunesier, Algerier und ein Großteil der afrikanische Muslime,
sowie Muslime im Arabischen Golf angehören.
Mohammad Ibnu-idris Asch-Schafii (gest. 820 n. Chr.)
Seine Lehrer waren u. a. Imam Malik, sowie ehemalige Schüler von Imam
Abu-hanifa. Er zählt mehr zur Hadith-Schule. Nach ihm ist die schafiitische Fiqh-Schule
benannt, der vor allem die Muslime in Indonesien, Malaysia, Ägypten, viele in den
arabischen Ländern und den Golfstaaten angehören.
Ahmad Ibnu-hanbal Asch-Schibani (gest. 855 n. Chr.)
Einer seiner Lehrer war Imam Asch-Schafii (s.o.). Er wird
eindeutig zur Hadith-Schule gezählt. Nach ihm ist die hanbalitische Fiqh-Schule genannt,
der vor allem Muslime in Saudi Arabien und eine Minderheit in Syrien angehören.
Die von diesen vier Gelehrten entwickelten akademischen Lehrmeinungen
im Fachbereich Fiqh stellen jedoch keineswegs die einzigen Lehrmeinungen auf diesem Gebiet
dar, sondern sind das Ergebnis einer historischen Entwicklung.
Etwa von der Mitte des ersten Jahrhunderts bis zum Beginn des vierten
Jahrhunderts gab es eine Vielzahl von islamischen Gelehrten, die im Fachbereich Fiqh
unterschiedlichste Lehrmeinungen in Fiqh-Fragen vertraten, und die zu ihrer Zeit unter den
Muslimen und in Fachkreisen anerkannt und einflußreich waren wie z. B. die Gefährten
des Gesandten und ihre Nachfolger: Abdullah Ibnu-masud , Ibnu-abbas,
Ibnu-umar, Zaid Ibnu-thabit, Said Ibnul-musaib, Ibrahim An-nachi, Hassan Al-basri,
Imam Dschafar As-sadiq, Al-auzai, etc. Die Lehrmeinungen dieser Gelehrten werden
deshalb bis heute zur wissenschaftlichen Arbeit herangezogen.
Die Tatsache, daß sich die Fiqh-Schulen der vier Gelehrten
(Abu-hanifa, Malik, Asch-Schafii, Ibnu-hanbal), gegenüber den Lehrmeinungen der
anderen durchgesetzt und etabliert haben, beruht auf dem Umstand, daß diese vier
Gelehrten über eine relativ große Anzahl Schüler verfügten, die ihre Lehrmeinungen und
Methodologien schriftlich dokumentierten, kommentierten und systematisierten und somit
einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machten.
Da in diesen so entstandenen Werken die Scharia-Normen nach einer
bestimmten Methodik zu finden sind, empfindet die Allgemeinheit der Muslime diese
Schriften als Erleichterung zum Verständnis der Scharia-Normen.
3. Phase
Tod der vier Imame bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches
Etablierung der Fiqh-Schulen mit anfänglich großen, auf akademischer
Ebene geführten Auseinandersetzungen unter ihren Anhängern, die jedoch nicht zur
dringend gebotenen Weiterentwicklung bzw. Anpassung des Islamischen Rechts an die
veränderten Verhältnisse in der Islamischen Welt führten.
4. Phase
Zerfall des Osmanischen Reiches bis heute
Derzeit dominieren zwei Meinungen:
Gelehrte, die an der Methodik der vier Fiqh-Schulen festhalten und
verlangen, daß alle Muslime einer der etablierten Fiqh-Schulen angehören.
Gelehrte der sogenannten Salafiya-Schule, welche die Muslime dazu
auffordern, die früheren Gelehrten nicht nachzuahmen, sondern direkt die Quellen zu
berücksichtigen.
Fiqh-Schulen in Hessen
Angesichts der Tatsache, daß Muslime heutzutage erstmals mit einer
historisch neuen Situation konfrontiert sind, als religiöse Minderheit auf Dauer in einer
nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft mit einer säkularen Regierung zu leben, ergibt
sich die Notwendigkeit für die Muslime und die islamischen Gelehrten in Hessen nunmehr
einen neuen Weg zu beschreiten, nämlich die Verbindung zwischen den beiden o. g.
Meinungen.
Erforderlich ist vor allem die Anwendung von Idschtihad, da die Muslime
hier unter veränderten Lebensbedingungen mit neuen Problemen konfrontiert sind, für
deren Lösung die vorgegebenen Antworten der früheren Gelehrten (die sich auf die
damalige Zeit und die damaligen Gegebenheiten bezogen) teilweise nicht mehr anwendbar
sind. Aus diesem Grund ist die Revidierung einiger Meinungen/Praktiken, die lediglich auf
Idschtihad der früheren Gelehrten beruhen, dringend geboten.
Zugehörigkeit der Muslime in Hessen zu Fiqh-Schulen: ca. 5% Schiiten
(organisiert z. Z. in einer einzigen Gemeinde) und 95% Sunniten (vertretend durch
verschiedene Organisationen, ca. 200) davon ca. 80 % Hanafi, 15 % Maliki, die übrigen
Schafii und vereinzelt Hanbali.
Fiqh-Rat der IRH
Die Besetzung des Fiqh-Rates der IRH erfolgte auch unter
Berücksichtigung der Fiqh-Schulen, so daß Anhänger aller vier o. g. Fiqh-Schulen dort
vertreten sind.
Fazit
Die islamischen Fiqh-Schulen weisen, wie oben ausgeführt, auf der
Ebene der Iman-Inhalte keinerlei Unterschiede auf. Die bestehenden
Meinungsverschiedenheiten bei einigen Fiqh-Fragen die aus den mehrdeutigen Texten gewonnen
werden bzw. die daraus folgenden unterschiedlichen Praktiken wurden und werden von den
Muslimen als dem Islam immanenter historisch gewachsener Meinungs- und
Handlungs-Pluralismus empfunden und nicht als Spaltung oder Anlaß für innerislamische
Probleme.
Daraus folgt, daß es weder in Hessen noch im allgemeinen
wissenschaftlich korrekt ist von
unterschiedlichen Glaubensrichtungen der Muslime oder
unterschiedlichen Konfessionen der Muslime oder
Sekten im Islam
zu sprechen.
Quelle: IRH Hessen
@ Ekrem Yolcu |