Menschenrecht und Gottesrecht

Mohamed Aman Hobohm

Informationszentrale Dâr-us-Salâm 1999

2. Auflage
Das Urheberecht liegt beim Autor.
Hrsg.: Informationszentrale
Darus-us-Salâm
Redaktion: Tilmann Schaible

ISBN 3-932129-66-0
Dieser Vortrag wurde gehalten am 17. Juli 1993 im Rahmen der Islam-Woche Darmstadt.



MENSCHENRECHT UND GOTTESRECHT

Das Menschenrechtsverständnis im Islam



Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, meine lieben Brüder und Schwestern!

Es ist mir eine Ehre und eine Freude, heute abend im Rahmen der Islam-Woche in Darmstadt zu Ihnen sprechen zu dürfen. Deshalb möchte ich meinen Vortrag damit beginnen, dass ich den Veranstaltern der Woche, den Darmstädter Moscheen, den Darmstädter Islamischen Vereinen und dem Haus des Islam, ganz besonders aber auch dem Schirmherrn der Woche, dem Herrn Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt, aufrichtig dafür danke, mich zu dieser Veranstaltung eingeladen zu haben. Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich dieser Einladung gern gefolgt bin, auch dann - und auch das sei gleich zu Beginn meiner Ausführungen gesagt - wenn das Thema, über das ich zu Ihnen sprechen soll, nämlich "Menschenrecht und Gottesrecht", erst in allerjüngster Zeit wieder leidenschaftlich diskutiert worden ist und zu sehr konträren und kontroversen Äußerungen und Stellungnahmen im Rahmen einer großen internationalen Veranstaltung, nämlich der Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien, Anlass gegeben hat.

Um auch das vorweg zu sagen: Der Islam und die muslimische Welt haben dabei, zumindest in den Berichten der hiesigen Medien über das Ereignis, schlecht abgeschnitten - zu unrecht, wie ich in meinen folgenden Ausführungen zu beweisen versuchen werde. Das, was Herr Professor Bassam Tibi von der Universität Göttingen kürzlich in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift "Entwicklung statt Menschenrechte?" dazu geschrieben hat, ist symptomatisch für die negative Rezeption, die das islamische Menschenrechtsverständnis, das islamische Verständnis von Menschenrecht und Gottesrecht, bei denen gefunden hat, die in den Idealen der Aufklärung das Heil des Menschen sehen.

So schreibt Herr Tibi: "In Wien tritt eine angebliche Nord-Süd-Polarisation zutage, in deren Mittelpunkt die Menschenrechte stehen. In Wirklichkeit geht es jedoch um einen Konflikt zwischen Moderne und Vormoderne, zwischen der Bestimmung des Menschen als einem mit Grundfreiheiten und Rechten gegenüber Staat und Gesellschaft ausgestatteten Individuum und einer Einordnung des Menschen in religiös-kulturelle Kollektive, gegenüber denen der Mensch nur Pflichten, aber keine Rechte hat." Im Islam sieht er eine vormoderne Kultur, die über ein Konzept individueller Menschenrechte im Sinne von Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft nicht verfügt, und - lassen sie mich daraus die Schlussfolgerung ziehen - eine Kultur, eine Religion, die damit ihre Relevanz für den modernen Menschen, oder für den Menschen der Moderne, für uns also, verloren hat.

Aber ist das wirklich so? Hat der Islam tatsächlich seine Relevanz für das Leben des modernen Menschen verloren, weil, ja weil er nicht über ein Konzept individueller Menschenrechte verfügt, wie Herr Professor Tibi und mit ihm viele andere Islam-Experten behaupten? Liegt hier nicht ein Irrtum vor? Hat der Islam tatsächlich kein Konzept individueller Menschenrechte, oder ist sein Konzept nur anders als das, welches aus der Magna Charta Libertatum von 1215, der Habeas-Corpus-Akte von 1679, der britischen Bill of Rights von 1689, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und schließlich der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 hervorgegangen ist und in der "Universellen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und den beiden internationalen Pakten vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte eine unserer Zeit gemäße Form und Fassung erhalten hat? Und wenn das islamische Konzept anders ist - worin besteht dann der Unterschied zu jenem Anderen, um das es vor allem den westlichen Nationen bei der großen internationalen Menschenrechtskonferenz von Wien ging?

Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die "Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" vom 4. November 1950 werfen, die auf der "Universellen Erklärung der Menschenrechte" fußt, die am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verkündet wurde.

In dieser Konvention werden unter anderem den der Herrschaftsgewalt der Vertragspartner unterstehenden Personen folgende Rechte und Freiheiten zugesichert:

1. Das Recht auf Leben,
2. das Recht auf körperliche Unversehrtheit,
3. das Recht auf Freiheit und Sicherheit,
4. das Recht auf Gleichbehandlung,
5. das Recht auf Eigentum,
6. das Recht auf Gewissensfreiheit,
7. das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens,
8. das Recht auf rechtliches Gehör,
9. das Recht auf Asyl,
10. das Recht auf Unschuldigkeitsvermutung,
11. das Recht auf Anwendung des Grundsatzes: nulla poena sine lege - ohne vorherige Strafandrohung keine Strafe,
12. das Recht auf Schutz vor Folter.

Lassen Sie mich zumindest zu den wesentlichsten Punkten einige Verse aus dem Heiligen Qur'an als vorrangiger Quelle des islamischen Rechts zitieren. Die mir zur Verfügung stehende Zeit erlaubt es leider nicht, alle hier relevanten Bestimmungen des islamischen Rechts aufzuführen:

Zum Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit heißt es zum Beispiel im Heiligen Qur'an: "Kommt her, ich will euch verlesen, was euer Herr euch verboten hat: Ihr sollt keinen Menschen töten, den Gott zu töten verboten hat, es sei denn, ihr seid dazu berechtigt." (6:151), "...und wer einen Menschen getötet hat, ohne dass dieser einen Mord oder eine Gewalttat im Land begangen hat, der soll sein wie einer, der die ganze Menschheit gemordet hat, und wer einen am Leben hält, der soll sein als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten." (5:35)

Zum Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit lesen wir: "Und wenn dein Herr wollte, würden die, die auf der Erde sind, allesamt gläubig werden. Willst nun du die Menschen dazu zwingen dass sie glauben?" (10:99) und dann vor allem aber jenen Vers, der es unmissverständlich ausdrückt: "Keinen Zwang darf es geben im Glauben" (2:256), ein Gebot, das auch dann, ja gerade dann, seine zwingende Gültigkeit behalten hat, wenn sich muslimische Staaten, politische Gruppen unter den Muslimen oder einzelne Muslime in der Geschichte der islamischen Welt leider zu oft - und schon ein Mal wäre zu oft gewesen - darüber hinweggesetzt haben.

Von besonderer Eindringlichkeit sind jene Verse, in denen Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen gefordert werden. Zunächst zur Gleichheit der Menschen, und hier zitiere ich aus der Qur'an-Übersetzung von Rudi Paret (mit allen darin enthaltenen Einschüben):

"Oh ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen, (indem wir euch) von einem männlichen und weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch besser kennt. (Bildet euch aber auf eure Abstammung nichts ein.) Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch, der am gottesfürchtigsten ist." (49:13) - Und ein zweites Zitat: "Oh ihr Gläubigen! Steht (wenn ihr Zeugnis ablegt) als Zeugen (die) Gott gegenüber (ihre Aussage machen) für die Gerechtigkeit ein, auch wenn es gegen euch selbst oder gegen die Eltern und nächsten Verwandten (gerichtet) sein sollte! Wenn der Betreffende reich oder arm ist (und ihr glaubt, zur Rücksichtnahme auf den einen oder anderen verpflichtet zu sein), so steht Gott ihnen beiden näher (als ihr). Und folgt nicht der (persönlichen) Neigung (von euch), (anstatt) dass ihr gerecht seid! Wenn ihr (das Recht) verdreht und euch (davon) abwendet, (so bleibt das nicht verborgen). Gott ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut." (4:135)

"Aus westlicher Sicht glücklicherweise", so schreibt Murad Hofmann in seinem Buch Der Islam als Alternative , dessen Lektüre ich jedem, der sich eingehender über den Islam unterrichten möchte, dringend empfehle, "aus westlicher Sicht glücklicherweise, aus muslimischer Sicht selbstverständlich, gibt es keine umfangreichen Abweichungen zwischen den okzidentalen und den islamischen Idealvorstellungen des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat (...). Von Interesse sind (...) die Unterschiede zum westlichen Menschenrechtskodex. Diese reduzieren sich auf wenige Punkte:

1. Die Menschenrechtspakte (...) enthalten Formulierungen über die Gleichberechtigung von Mann und Frau,(...) die von moslemischen Staaten nur unter Vorbehalt ratifiziert werden können. Aus islamischer Sieht wird die Frau gegenüber dem Mann zwar nicht diskriminiert, weil nach islamischem Recht Ungleiches ungleich und Gleiches gleich behandelt wird, aber genau hier", so sagt Hofmann, "liegt der Hase im Pfeffer; denn die westliche Theorie leugnet rechtsrelevante Unterschiede zwischen Mann und Frau grundsätzlich, während der Islam diese Fiktion nicht (...) mitvollzieht.

2. Nach islamischem Recht existiert das Recht, seine Religion ohne Nachteile zu wechseln, für den Muslim nicht. Dies hat für ihn zumindest erbrechtliche und möglicherweise (auch) familienrechtliche Folgen, auch wenn es für Apostaten gewiss kein qur'anisches Hinrichtungsgebot gibt.

3. Nichtmuslimische Staatsbürger eines islamischen Staates genießen im politischen Bereich insofern keine gleiche Zulassung zu politischen Ämtern, als ihnen das Amt des Staatsoberhaupts (...) verwehrt ist." Und er fügt hinzu: "Der Nichtmuslim steht übrigens insofern nicht schlechter da als ein im Ausland geborener amerikanischer Staatsbürger bei der Wahl zum Präsidenten.

4. Die Bemühung, die (nicht korrigierbare) Todesstrafe abzuschaffen (...), wird von der islamischen Welt nicht mitvollzogen (- wie selbst in den USA nicht von allen Staaten -) weil die Todesstrafe im Qur'an für (mehrere) Delikte (...) vorgesehen ist. Aber auch im Islam besteht kein Zwang, vorgesehene Strafen unbedingt zu vollziehen; ein genereller Verzicht auf die Todesstrafe ist islamischen Staaten aber nicht möglich.

5. Ein ähnliches, glücklicherweise nur formales Problem stellt die heute weltweit geächtete Sklaverei dar, weil sie vom Qur'an (...) toleriert worden ist (...). Gott hat jedoch im Qur'an an vielen Stellen zum Ausdruck gebracht, dass die Befreiung kriegsgefangener Diener und Dienerinnen (- sprich Sklaven -) eine besonders verdienstvolle Tat ist. Der Qur'an hat damit die Abschaffung der Sklaverei selbst in Gang gesetzt."

"Nach allem", so schließt Hofmann seine Betrachtungen über die Menschenrechte im Islam ab, "gibt es zwischen Islam und Menschenrechtsdoktrin keine wesentlichen Widersprüche. Im Gegenteil: Der Islam ist ein (komplementäres) Menschenrechtssystem."

Gestatten Sie mit bitte, meine Damen und Herren, dass ich mich an dieser Stelle noch einmal dem islamischen Strafrecht zuwende, das ich bereits kurz gestreift habe:

Das islamische Strafrecht unterscheidet - im Wesentlichen aufgrund der über sie verhängten Strafen - drei Gruppen von Straftaten.

Die erste Gruppe umfasst diejenigen Straftaten, die einer im Qur'an oder durch die Sunna des Propheten festgesetzten Strafe, einer sogenannten "Hadd-Strafe" unterliegen.

Hierbei handelt es sich um fünf Delikte:

1. Unzucht,
2. Verleumdung wegen Unzucht,
3. Genuss von Alkohol,
4. Diebstahl, und schließlich
5. Straßenraub und Wegelagerei, sowie alle Straftatbestände, die unter dem Begriff "Krieg gegen Gott und Seinen Gesandten" und das "Stiften von Unheil auf Erden" zusammengefasst werden.
Manche Juristen zählen auch den Abfall vom Islam zu dieser Gruppe von strafbaren Handlungen.

Mord, Totschlag und Körperverletzung gehören nicht zu den mit einer "Hadd-Strafe" bedrohten Delikten. Sie unterliegen, sofern sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer anderen Straftat wie Raub, Vergewaltigung oder Aufruhr stehen, der Wiedervergeltung, also dem ius talionis, mit allen Einschränkungen, wie zum Beispiel Gleichwertigkeit von Täter und Opfer, aber auch allen Vorteilen, wie Verzicht auf die Vollstreckung der Todesstrafe, wenn sich der oder die unmittelbar vom Tod des Ermordeten betroffene Verwandte, d. h. der zur talio, zur Vergeltung Berechtigte, mit der Zahlung eines Blutgeldes, der sogenannten "diya", zufrieden gibt. Die dritte und größte Gruppe umfasst die sogenannten "Ta'zîr-Strafen", die für solche Vergehen verhängt werden, für die es keine "Hadd-Strafe" oder Buße (kaffâra) gibt, und die nicht unter das Recht der Wiedervergeltung fallen. In schwer wiegenden Fällen, wie etwa Drogenhandel, Spionage, bewaffneter Bankraub, Sedition und Mord, soweit keine Wiedervergeltung in Betracht kommt, legitimiert die Ta'zîr-Gewalt den Staat oder das Gericht auch zur Verhängung der Todesstrafe.

Das islamische Strafrecht verlangt oder billigt die Anwendung der Todesstrafe bei folgenden Straftatsbeständen:

1. bei Mord,
2. bei Ehebruch und bei Bezichtigung des Ehebruchs,
3. bei Apostasie,
4. bei Wegelagerei, sowie bei Straftaten, die unter den Begriffen "Krieg gegen Gott und Seinen Gesandten" und "Verbreitung von Verderbnis und Zersetzung" oder das "Stiften von Unheil auf Erden" zusammengefasst sind.

Es kann aber nicht bestritten werden - und das sei betont -, dass sich die Todesstrafe in drei der genannten vier Fälle nicht, oder nicht eindeutig - und schon gar nicht zwingend - aus dem Qur'an herleiten lässt. Im Falle von Ehebruch und der Bezichtigung des Ehebruchs ist im Qur'an nur von Züchtigung der Übeltäter die Rede, und dem Apostaten werden vom Qur'an nur jenseitige Strafen angedroht. Weltliche Strafen kämen, wenn überhaupt, nur dann in Betracht, wenn der Abfall vom Islam mit Fahnenflucht oder Hochverrat verbunden ist. Bei Wegelagerei, "Krieg gegen Gott und Seinen Gesandten" und "Verbreitung von Verderbnis und Zersetzung" reicht die Skala der im Qur'an aufgeführten, d. h. möglichen, Strafen von der Todesstrafe bis hin zur Verbannung.

In Hinsicht auf das ius talionis, das Recht zur Vergeltung, d. h. die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe im Falle von Mord, möchte ich jedoch noch auf Folgendes hinweisen:

Das Recht zur Vergeltung als ein im Qur'an verbrieftes Recht ist ein Prinzip im islamischen Strafrecht; aber es war nie das Prinzip schlechthin oder das alleinige Prinzip dieses Rechts, schon gar nicht, wenn man das ius talionis ausschließlich im Sinne von "Rache" versteht. Folgender Qur'an-Vers macht dies so deutlich, dass es keinen Zweifel darüber geben sollte: "Wir haben ihnen (in der Thora) vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn und Verwundung (ebenso. In allen Fällen ist) Vergeltung (vorgesehen). Wer aber darauf verzichtet, dem wird es als Sühne (für eine begangene Sünde) angerechnet." (5:45)

Das Gleiche besagen die Verse 178 und 179 der 2. Sure: "Oh ihr, die ihr glaubt, vorgeschrieben ist euch die Vergeltung im Mord: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, die Frau für die Frau. Der aber, dem von seinem Bruder" - und Bruder bedeutet an dieser Stelle den zur talio, zur Vergeltung Berechtigten - "der aber, dem von seinem Bruder verziehen wird, bei dem lasse man Güte walten; doch Entschädigung sei ihm (dem Geschädigten) in reichem Maß." Und im nächsten Vers heißt es: "Dies ist gegenüber der früheren Handhabung der Blutrache eine Erleichterung von eurem Herrn und ein Akt der Barmherzigkeit. Wenn nun aber einer, nachdem diese Regelung getroffen ist, eine Übertretung begeht (indem er sich an die frühere Sitte der Blutfehde hält), so hat er eine schmerzhafte Strafe zu erwarten. Die Wiedervergeltung sichert euch das Leben. Bedenkt dies, oh ihr, die ihr Verstand habt, auf dass ihr gottesfürchtig sein möget."

Dieser letzte Vers wird einstimmig dahin gehend interpretiert und kommentiert, dass im Unterschied zur Blutfehde in vor-islamischer Zeit, wo Rache das Motiv für die Wiedervergeltung war, das ius talionis, das Recht der Vergeltung, durch die Abschreckung, die von ihm ausgeht, vor allem ein Ziel verfolgt: den Schutz des menschlichen Lebens, den Schutz des Einzelnen und damit Sicherheit für alle auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Und das allein, meine Damen und Herren, ist Ziel und Prinzip des Strafrechts, ja allen Rechts im Islam - auch des ius talionis, des Rechts auf Wiedervergeltung.

Nach diesem Exkurs in die Gefilde des islamischen Strafrechts möchte ich mich nun wieder den allgemeinen Menschenrechten zuwenden.

Ich darf Sie an dieser Stelle daran erinnern, meine Damen und Herren, dass ich als Muslim vor Ihnen stehe und zu Ihnen spreche. Als Muslim, das heißt als Anhänger einer Religion, in meinem Fall des Islams. In meinem Weltbild, ja in meinem ganzen Leben spielt daher der Glaube an einen "personalen - aber geschlechtslosen -, transzendenten - aber in der Welt wirksamen Gott", wie Murad Hofmann es kurz und prägnant gesagt hat, eine zentrale Rolle. Hierdurch unterscheide ich mich grundsätzlich von denen, für die der Glaube an Gott irrelevant geworden ist, irrelevant vor allem als Schöpfer und Lenker der Welt, und - mit besonderem Bezug auf das Thema des heutigen Abends - als der souveräne Gesetzgeber.

"Das grundlegende Merkmal der Moderne", so schreibt der in Osnabrück lehrende christliche Sozialwissenschaftler Manfred Spieker in einem kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel "Waren Petrus und Paulus, Maria und Joseph Fundamentalisten?" veröffentlichten Artikel, "das grundlegende Merkmal der Moderne ist der Autonomieanspruch des Menschen, ein Anspruch, der durchaus nicht ohne widersprüchliche Konsequenzen ist. Der Mensch will die Normen seines Handelns und die Ziele seines Strebens selbst festsetzen und rational begründen, nicht irgendwelchen Institutionen oder Traditionen verdanken."

Wenn ich als gläubiger Mensch die diversen modernen Menschenrechtsdokumente betrachte, dann kann ich nicht umhin, sie trotz ihres umfassenden Charakters - und umfassend sind sie, denn die in diesen Dokumenten verankerten Rechte reichen vom Recht auf höchste Güter, wie dem Recht auf Leben und Freiheit, bis hin zum Banalen, dem Anspruch auf Erholung und Freizeit - dann kann ich nicht umhin, sie dennoch für defekt zu halten - für defekt und unvollständig, weil sie jeden Hinweises auf Gott entbehren, ganz zu schweigen von einer Zurückführung dieser Rechte auf Gott.

Dieser Defekt - andersherum ausgedrückt: der Autonomieanspruch des Menschen - führt nach Professor Spieker zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, zur Individualisierung der Lebensführung, zur Pluralisierung der Weltanschauungen und zum Bedeutungsverlust der Religion. Zu den Folgen zählt aber auch, dass die Individualisierung der Lebensführung in eine allgemeine Ungewissheit, in Orientierungslosigkeit, ja Zukunftsangst umschlagen kann, der Pluralismus der Weltanschauungen in Religionskriege, die Volkssouveränität in totalitäre Herrschaft, die rational geplante Produktion in eine Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Murad Hofmann befindet in der ihm eigenen Prägnanz: "Das Menschenrechtsgebäude (...) ist (nur) solange stabil, wie man Grundrechte in Übereinstimmung mit der islamischen Auffassung als Rechte begreift, die man nicht setzen, sondern lediglich als bereits existierend (- als von Gott gesetzt, möchte ich erklärend hinzufügen -) erkennen oder auffinden kann.

Die Respektierung der Menschenrechte steht und fällt damit letztlich mit dem Glauben an Gott. Wer Ihn leugnet, stellt unwillkürlich alle Rechte zur menschlichen Disposition."

Das Resultat sind, wie von Professor Spieker beschrieben: Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und schließlich geradezu apokalyptische Ängste.

Das, genau das, ist die Malaise des modernen, des aufgeklärten Menschen:

Er, der Mensch, hat sich in den Mittelpunkt der Welt gestellt. Er hat sich auf den Thron Gottes gesetzt, und er maßt sich an alle Rechte, selbst Grundrechte, zu setzen oder - wie er sich selbst täuschend vorgibt, aus vermeintlichen "Naturrechten" abzuleiten.

In allen diesen Fällen aber handelt es sich nur - und auch hier möchte ich wieder Murad Hofmann zu Wort kommen lassen - "um die Projektion ideologischer Vorstellungen vom Menschen in seine 'Natur' hinein, womit der Geltungsgrund des Rechts eben doch nur in der Konvention, in der gesellschaftlichen Übereinstimmung, gesucht und gefunden wird."

Was aber bedeutet das im Klartext? Es bedeutet, dass aus absoluten Werten relative geworden sind, die so, wie sie vom Menschen definiert auch vom Menschen manipuliert werden können.

Man kann einer Konvention dieser Art beitreten, man kann ihr fernbleiben. Man kann sie einhalten, man kann sie brechen. Ausschlaggebend hierfür ist allein - vor allem, wenn es sich um Staaten handelt, und das beweist in erschreckender Eindringlichkeit eine Serie von Ereignissen, die sich in allerjüngster Zeit vor unseren Augen abgespielt hat und immer noch abspielt, ich nenne nur Bosnien - ausschlaggebend hierfür ist allein politisches Kalkül, aber nicht Gottesfurcht. Und geben wir uns keinen Illusionen hin: Allein die Gottesfurcht ist letztlich und endlich der Garant für die Akzeptanz, die Befolgung und Einhaltung allen Rechts. Für den Muslim gibt es keinen Zweifel: Über allem, den Menschen - und mag er auch noch so vermessen und überheblich sein - den Menschen eingeschlossen, steht Gott, der Weltenschöpfer, der Weltenlenker und der Weltenrichter. Er setzt das Recht, und dieses Recht ist für alle gleich. Wegen seines göttlichen Ursprungs ist es unserem Zugriff, unserer Manipulation, entzogen, was für uns die Voraussetzung für universale Rechtssicherheit ist.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich den eingangs zitierten Bassam Tibi in seiner Auffassung bestärke: In vormodernen Kulturen - und dazu gehöre, wie er sagt, der Islam - in vormodernen Kulturen würde der Mensch in religiös-kulturelle Kollektive eingeordnet, gegenüber denen der Einzelne nur Pflichten aber keine Rechte hat, möchte ich dennoch das Fehlen jeglichen Hinweises auf Pflichten in den modernen Menschenrechtsdokumenten als weiteres Defizit herausstellen.

In seinem unter dem Titel "Die missachteten Gebote" in der Tageszeitung Die Welt abgedruckten Artikel schreibt Josef Nyary, dass sich der Zustand der abendländischen Gesellschaft an kaum einer Messlatte leichter ablesen lasse als an den zehn Geboten, in denen er die Frucht eines auch anderen Religionen eigenen Strebens sieht, ein Grundgesetz für das Zusammenleben der Menschen zu schaffen. Und nachdem er die einzelnen Gebote zitiert und kommentiert hat, schließt er mit den Worten: "Der Heide Cicero, der christliche Gebote nicht kennen konnte, wusste gleichwohl schon vor 2000 Jahren: Das Gesetz ist nichts anderes als ein richtiges, vom Wesen der Götter hergeleitetes Gebot der Vernunft, welches das, was ehrbar ist, gebietet und das, was entgegensteht, verwehrt." Sein Urteil, von solcher Vernunft und Ehrbarkeit entferne sich die deutsche Gesellschaft in rasch wachsendem Tempo, ist hier nicht relevant.

Relevant ist, dass es im Zusammenleben der Menschen einfach nicht ohne Gebote und Verbote geht, nicht ohne Rechte und Pflichten - die Zehn Gebote enthalten übrigens nur zwei, ich wiederhole: zwei Gebote: das dritte "Du sollst den Sabbat heiligen" sowie das vierte "Du sollst Vater und Mutter ehren"; und acht, ich wiederhole: acht Verbote. Hören wir, was der neue Katechismus der Katholischen Kirche zum Dekalog, zu den Zehn Geboten zu sagen hat: "Das Konzil von Trient lehrt, dass die Zehn Gebote für Christen verpflichtend sind, und dass auch der gerechtfertigte Mensch sie zu befolgen hat... Die Zehn Gebote sind Teil der Offenbarung Gottes... Sie heben seine wesentlichen Pflichten hervor und damit indirekt auch die Grundrechte, die der Natur der menschlichen Person innewohnen... Wer ein Gebot übertritt, verstößt gegen das ganze Gesetz... Weil die Zehn Gebote die Grundpflichten des Menschen gegenüber Gott und dem Nächsten zum Ausdruck bringen, sind sie ihrem Wesen nach schwer wiegende Verpflichtungen. Sie sind unveränderlich, sie gelten immer und überall. Niemand kann von ihnen dispensieren. Gott hat die Zehn Gebote in das Herz des Menschen geschrieben."

Nein, es geht in der menschlichen Gesellschaft, im Zusammenleben der Menschen nicht ohne Pflichten, und deshalb halte ich es für einen Mangel, für einen Defekt, dass in den Menschenrechtsdokumenten fast ausschließlich von Rechten und Ansprüchen und nicht auch von Pflichten die Rede ist, bedingt doch das eine das andere. Wie wäre es um das Recht auf Leben bestellt, wenn ihm nicht das Verbot zu töten gegenüberstünde. In den meisten Fällen sind Rechte und Pflichten komplementär, und nur von Rechten zu reden ist einfach nicht reell und pädagogisch gesehen ein Desaster.

Ich lese im Heiligen Qur'an die Worte des Allmächtigen:
"Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur dazu geschaffen, dass sie Mir dienen." (51:56)

Damit steht für mich als gläubiger Mensch, als Muslim, das im Vordergrund meines Sinnens, Denkens, Trachtens, Wollens und Handelns, was Gott selbst als Sinn und Zweck des menschlichen Lebens genannt und bezeichnet hat: 'Ibâda! - Und was ist 'Ibâda? 'Ibâda, das ist die Anbetung Gottes, das ist Gottesdienst im herkömmlichen Sinn - im weiteren Sinn aber ist es "die allgemeine Verwirklichung aller von Allah vorgesehenen Pflichten und damit Anbetung als Gehorsam kennzeichnend." So hat es Ahmad v. Denffer in seinem Kleinen Wörterbuch des Islam richtig und treffend definiert.

Und so steht denn über allem was ich denke und tue - und so sehe ich den Islam, so sehe ich den Sinn und Zweck meines Lebens - die Pflicht! Die Pflicht Gottes Gebote zu befolgen, das zu tun, was Er mich zu tun heißt, und das zu unterlassen, was Er mir zu unterlassen gebietet. Und ich sehe darin keine Minderung meiner Menschenwürde, denn mich Ihm hinzugeben, ganz hinzugeben, bedingungslos und ohne Einschränkung, macht mich erst zu einem wirklich freien Menschen. Und in dieser Freiheit liegt meine Würde.

Es sei hinzugefügt, dass grundsätzlich alle in den Menschenrechtsdokumenten geforderten Grundrechte und Grundfreiheiten durch die dem Muslim von Gott auferlegten Pflichten voll abgedeckt sind, und das heißt: gesichert. Somit gibt es, wiederum grundsätzlich gesehen, zwischen Islam und Menschenrechtsdoktrin keine wesentlichen Widersprüche. Der Widerspruch liegt im Menschenrechtsverständnis:

Das Menschenrechtsverständnis des "modernen", des "aufgeklärten" Menschen - und ich setze diese beiden Adjektive in Anführungszeichen - basiert auf dem Wertesystem, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht.

Im Islam dagegen basiert das Menschenrechtsverständnis auf einem Wertesystem, dessen Autor Gott ist.

Wir können die Menschenrechtsdokumente Artikel für Artikel durchgehen: Für jedes der in den Artikeln angeführten Rechte finden wir im Qur'an oder in den anderen Quellen des islamischen Rechts entsprechende Gebote oder Verbote - Pflichten - durch die sichergestellt ist, dass der Mensch auch im Geltungsbereich des Islams - ich möchte sagen: dort ganz besonders - ein wahrhaft menschenwürdiges Leben führen kann. Ich sagte: im Geltungsbereich des Islams.

Ehe ich meine Ausführungen beende, seien mir noch zwei durchaus im Zusammenhang mit dem Thema des heutigen Abends stehende Bemerkungen gestattet:

1. Der moderne Mensch wirft den "vormodernen Kulturen", wie dem Islam, nicht nur das Fehlen eines Konzepts individueller Menschenrechte vor, sondern der Vorwurf geht weiter: Weil vormoderne Kulturen ein derartiges Konzept nicht haben, sei freie Forschung unmöglich, und damit jeder wissenschaftliche und technische Fortschritt. Ich kann dazu nur sagen, dass den Islam dieser Vorwurf nicht treffen kann, denn der Beitrag, den muslimische Gelehrte und Wissenschaftler zum Fortschritt der Menschheit geleistet haben, dürfte heute unbestritten sein. Und das, meine Damen und Herren, zu einer Zeit, als der Islam noch tatsächlich "din wa daula" - Religion und Staat - war, ein in jeder Beziehung und in vollem Umfang real existierender Islam.

Und die zweite Bemerkung ist eigentlich eine Frage: Die Verfechter der Menschenrechte halten sich besonders viel für ihren Kampf allerorten um die Gewissensfreiheit zugute, auch um die Glaubensfreiheit! Gelten diese Freiheiten nur für sie? Oder darf auch ein Muslim oder irgendein anderer gläubiger Mensch sie geltend machen? Auch dann, wenn es zwischen ihrem und seinem Menschenrechtsverständnis Unterschiede gibt? Wenn er sich dagegen sträubt, sein Leben zu säkularisieren? Sich sträubt, der "vormodernen Kultur", seiner Religion, dem Islam, den Rücken zu kehren?

Diese Frage verdient es, dass wir alle im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen untereinander ernsthaft über sie nachdenken.

@ Ekrem Yolcu

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