Die politische Dimension der Muslime
Im nächsten Jahrtausend wächst die Zahl der Muslime erneut stark

September 1999: im Willy-Brandt- Haus in Berlin diskutieren Vertreter der deutschen Gesellschaft das „Politikum“ Islam. Das Podium in der SPD-Zentrale ist gewichtig besetzt - optisch etwas an den Rand gedrängt hat auch der Vorsitzende des Islamrats in Deutschland - Herr Hasan Özdogan - Platz genommen. Er verteidigt nun zwar allein, aber professionell und engagiert den Islam vor dem Vorwurf, die Gesellschaft der Bundesrepublik sei durch die Muslime gefährdet. Obwohl der Islamrat die Veranstaltung organisiert hat, ist es offensichtlich nicht gelungen, auch weitere Vertreter des Islam in Deutschland auf dem Podium zu etablieren. „Warum hat der Islamrat keinen deutschen Muslim eingeladen“, fragt ein türkischer Medienvertreter im Raum und bekommt von den anwesenden Muslimen ein Achselzucken zur Antwort. Der institutionalisierte Islam in Deutschland wird heute von einer Hand voll Muslimen streng verwaltet. Das Szenario der Veranstaltung ist durchaus ein Spiegelbild der politischen Situation der Muslime in Deutschland.

Der Verlauf der Diskussion ist in manch anderer Hinsicht exemplarisch. Dr. Michael Friedman, Rechtsanwalt aus Frankfurt, übernimmt im Verlauf der Diskussion geschickt das Mandat der Muslime und weist darauf hin, daß eine „offene Gesellschaft“ auch „Glaubensüberzeugungen“ hinnehmen muß. Man könne nicht, so Friedman, „erwarten, daß das Grundgesetz für Gläubige höher stehe als ihre jeweilige Offenbarung“. Schade, daß die Veranstaltungsregie nicht auch einem Muslim an diesem Abend Gelegenheit gibt, genauso eindeutig und offensiv für die Muslime Partei zu nehmen und sich zu profilieren.

Theo Sommer, Herausgeber der Zeit, wiederum entwirft ein Hohelied auf das Grundgesetz mit unüberhörbar religiösen Untertönen. Das Grundgesetz sei perfekt und unveränderlich. Im Grunde, so meint ein Zuhörer mit süffisantem Unterton, ist das Grundgesetz “.. eine Offenbarung eigener Art“. Auf das Problem, inwieweit das Grundgesetz durch Machtzerfall der demokratischen Institutionen im Parteienstaat und dem Machtgewinn supranationaler Institutionen bereits erodiert ist, geht er in seinem Beitrag nicht ein. So müssen Muslime per Definition auch an diesem Abend ihre Verfassungstreue beweisen, während gleichzeitig nie besprochen wird, ob die Verfassung selbst im Zeitalter der Globaliserung sich eigentlich treu geblieben ist. Die Auseinandersetzung um die innenpolitische Bedeutung der Muslime dient daher gerne dazu, das wachsende Demokratiedefizit der säkularen Gesellschaft zu verschleiern. Demzufolge hat ein substantieller Beitrag der Muslime zum Verfassungsdiskurs und zur Frage der inneren „Gerechtigkeit moderner Gesellschaften“ auch auf dieser Veranstaltung keine wirkliche Chance. Der zugedachte, rein defensive Part der Muslime in den aktuellen Denkschemata sieht noch keinen Austausch offensiver Argumente vor. Die Folge: die rein defensive Position verhindert, daß die Muslime als politische Einheit ernst genommen werden.

Die Veranstaltung zeigt auch wenig Sensibilität der Teilnehmer hinsichtlich der traumatischen Erfahrungen der Muslime des Balkans, die bis in die Gemeinschaften in Deutschalnd hineinwirken. Auf die Stimmungslage tausender Muslime aus dem Balkan in Deutschland wird im Lichte „humanistischer Ideale“ nicht eingegangen. Das Hohelied auf das europäisch-humanistische Projekt hat durch die Genozide auf dem Balkan keinen sichtbaren Schaden erlitten.

Hierzu gehört auch, daß die deutsche Vergangenheit bemüht wird - mit keinem Wort des Bedauerns aber das aktuelle und vergangene Leiden der Muslime in Europa heute und in dem vergangenen Jahrzehnt Erwähnung findet. Die Diskussion verläuft daher in gewohnten, festgefahrenen Bahnen der etablierten „Gut-Böse-“ Unterscheidungen.

Dr. Edzard Reuter, ehemaliger Vorstandschef des Daimler-Benz Konzerns, attackiert die angebliche Unterwanderung des Islamrats durch die Organsiation Milli-Görüs. Die faktische Unterdrückung des politischen Willens der Muslime in Istanbul ist dem Demokraten aus Stuttgart kein Dorn im Auge. Ob der Daimler Konzern etwa eigene geopolitische Interessen in der Türkei hat und hatte, wird er an diesem Abend nicht gefragt. Niemand in Deutschland käme ja auch auf die romantische Idee, die demokratische Legitimation eines „Global Players“ anzuzweifeln. Wer allerdings als Muslim das politische Schicksal der Muslime in der Türkei mitverfolgt, hätte einige interessante Fragen zu stellen.

Der bekannte Journalist Peter Scholl-Latour schlußendlich bringt es auf den Punkt: man wird die Millionen Muslime in Europa auf Dauer nicht ignorieren können und auch bald in einen substantiellen Dialog mit ihnen treten müssen. Eine islamische Bildung beispielsweise könne nicht darauf hinauslaufen, so Scholl-Latour, „daß man von außen definiere, was Islam ist.“. Emotionslos weist der Starjournalist auf die bevorstehenden, nüchternen Zahlen in Deutschland hin: Politische Beobachter erwarten bald bis zu 5 Millionen Muslime in Deutschland. Wichtig in diesem Zusammenhang auch der Aufruf des Autors, die intellektuelle Auseinandersetzung mit der gesamten intellektuellen Spannbreite des Islam zu suchen, vorallem auch den Dialog mit dem Islam nicht alleine den Kirchen, schon gar nicht in einer religiösen „Ecke“ der Gesellschaft zu überlassen.

Szenenwechsel: eine Gruppe Demonstranten steht Anfang November frierend vor der russischen Botschaft in Berlin. Man protestiert auf der Veranstaltung gegen den eskalierenden Krieg im Kaukasus. „Der Krieg wird von den deutschen Steuerzahlern mitfinanziert“, macht ein mitgebrachtes Plakat deutlich. Wie schon während des Kosovokrieges halten sich die Muslime auch in diesem Konflikt mit der politischen Meinungsbildung zurück. Man beschränkt sich auf die Organisation humanitärer Hilfe. Eine vergleichbare Veranstaltung von Muslimen findet in Berlin nicht statt. Der Islam und seine Vertreter werden daher in der Öffentlichkeit und in den Medien auch in Krisensituationen bisher leider überhaupt nicht wahrgenommen. Es entsteht daher leicht der fatale Eindruck, die Muslime in Deutschland hätten zu diesen Fragen keinen fundierten Beitrag zu leisten.

Eine muslimische Pressearbeit oder etwa eine politische Mobilisierung findet durch die etablierten Organsiationen in erster Linie bei der Diskussion um das „Kopftuch“ statt - nicht aber im Zusammenhang mit den aktuellen Kriegen und Ihren Opfern. Daß politischer Einfluß sich auch durch die Möglichkeit der Mobiliserung manifestiert, ist ein politischer Erfahrungsgrundsatz. Wegen der Passivität der Muslime, meinen nun viele, konnte der Islam in Deutschland bisher auch nicht mit entsprechendem Nachdruck die überfälligen Rechte der Muslime einfordern. Jetzt, da immer mehr Muslime deutsche Staatsbürger werden, ist es an der Zeit, über offensivere Strategien der Muslime nachzudenken. Die Muslime müssen den Staat weniger als Autorität, sondern als einen Dienstleister begreifen, der auch Ihnen zu dienen hat.  

Die Wege für eine stärkere politische Rolle der Muslime in Deutschland sind klar. Hierzu gehört eine aktive Pressearbeit und die politische Mobiliserung von Muslimen, wenn Muslime in Europa sogar in Ihrer physischen Existenz bedroht sind. „In Berlin müssen wir eine andere Präsenz des Islam aufbauen um mit unseren verschiedenen legitimen Anliegen ernst- und wahrgenommen zu werden“ ist daher eine wachsende Forderung von immer mehr in Deutschland lebenden Muslimen an die islamischen Organisationen.

Quelle: Islamische Zeitung, 34. Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

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