Nachdenkliche Festschrift aus Stuttgart
STUTTGART. In einer bundesweit veröffentlichten Nachbetrachtung auf das Jahr 1999, die
anläßlich des Endes des diesjährigen Ramadans herausgegeben wurde, hat der Zentralrat
der Muslime in Baden-Württemberg nachdenkliche Töne über die Lage der Muslime in
Deutschland und in seinem Bundesland angeschlagen.
Verantwortlich gemacht werden dafür allerdings nicht nur die politischen
Persönlichkeiten und Gremien, sondern auch die Medien und andere sozial relevante Organe,
denen es nicht gelungen sei, das Verhältnis zwischen dem Islam und den hier lebenden
Nichtmuslimen entscheidend zu verbessern.
Mit einem gemeinsamen Gebet und mit Dank, aber auch mit Wehmut werden wir in Kürze
den Ramadan verabschieden. Den Fastenmonat haben wir mit Vorfreude erwartet, mit Fasten
gelebt, sowie mit Nachtgebet, Tröstung, Wohltätigkeit, der inneren Einkehr und dem
Willen, mit sich und dem Mitmenschen ins Reine zu kommen, verbracht. Wir werden ihn mit
einer Gabe für die Bedürftigen abschließen.
Wir wünschen allen Geschwistern gesegnete Feiertage. Möge Allah uns alle in seine
Barmherzigkeit mit aufnehmen und uns vergeben. Er ist der Barmherzige, der Allerbarmer,
der Vergebende.
Das vergangene Jahr hat für uns Muslime, trotz Vorleistungen, die erhoffte und durch die
Verfassung garantierte Gleichstellung nicht gebracht, wobei eine gewisse Bewegung nicht zu
leugnen ist. Wir werden, so Allah will, unsere Bemühungen und Anstrengungen forcieren,
wobei wir auf die Mitarbeit und die Verbundenheit unserer Geschwister angewiesen sein
werden.
Die Beteiligung muslimischer Wähler an den Kommunalwahlen im Oktober 99 war erfreulich
groß. Es ist die Pflicht eines Muslims, soziale Verantwortung mit zu übernehmen. Wir
hoffen, daß die Städte und Gemeinden Vertreter der islamischen Gemeinden in die sozialen
und kulturellen Gremien einberufen werden.
Die Entwicklung der sozialen Strukturen ist sehr bedenklich und droht den sozialen Frieden
zu zerstören. Arme werden ärmer und Reiche werden reicher. Dabei spielt die ungeheure
Zinslast - jede fünfte Mark des Bundeshaushalts wird für die Zinsschuld ohne Tilgung
ausgegeben - eine wesentliche Rolle. In den drei monotheistischen Religionen gilt der
Zins, nicht ohne Grund, als gesellschaftsschädlich. Es ist höchste Zeit, über eine
alternative, gerechte Wirtschaftsordnung ohne Zins nachzudenken.
Das vergangene Jahr brachte keine Besserung für die Unterdrückten und Schwachen. Es
sieht so aus, als ob das Gesetz des Dschungels herrscht, wo der Starke immer Recht hat.
Völkermorde konnten weder in Ruanda, noch im Kosovo verhindert werden, ein weiterer ist
seit mehr als drei Monaten in Tschetschenien im vollen Gang. Dörfer und Städte werden
durch pausenloses Bombardement und Raketenangriffe vernichtet, ohne Rücksicht auf die
Bevölkerung und ohne Spur von Menschlichkeit oder Respekt vor dem Leben. Unfaßbar, daß
die zivilisierte Weltgemeinschaft nahezu tatenlos zusieht, unfähig, eine adäquate
Antwort zu finden. Spielen denn wirtschaftliche und politische Interessen eine wichtigere
Rolle als das erste Grundrecht des Menschen, das Recht auf Leben?
Wir wünschen uns eine Absage an jede Form von Unterdrückung und Machtmißbrauch, sowie
eine effektive Ahndung aller Verbrechen. Das Menschenleben und die Menschenwürde sollten
wirklich unantastbar sein.
M. Riad Ghalaini
Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Baden-Würrtemberg
Quelle: Islamische Zeitung, 36.
Ausgabe