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Hintergrund: Herrschaft der Kinder?

Ziele authentisch-islamischer Erziehung - Von Sidiqa Woy-Küffner, Potsdam


„Nie habe ich jemanden gesehen, der das Recht seiner Familie und Kinder mehr respektiert hätte, als der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und Frieden geben.“ Der Prophetengefährte Anas, überliefert von Imam Ibn Hanbal

„Kinder haben Rechte, da sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht verwalten können und somit den Zustand des Geschützt-Seins besitzen. Jedoch haben sie AUCH Rechte, da sie in ihrem eigenen Bereich weder Autorität besitzen noch ein Verständnis von der Beschaffenheit der Dinge haben.“ Schaikh Dr. ‘Abdalqadir As-Sufi

Diese beiden Aussagen machen sehr gut die islamische Sichtweise vom Status des Kindes deutlich. Das Kind in seiner Schutzlosigkeit hat das Recht auf Schutz, und das Recht darauf, das für seine Angelegenheiten und sein Wohlergehen gesorgt wird, da es selbst nicht dazu in der Lage ist. Eines dieser Rechte eines muslimischen Kindes ist es, eine angemessene Erziehung zu erhalten. Dies ist wie die allgemeine Pflicht zur Fürsorge für das Kind im authentischen Islam natürlich nicht nur auf den gesellschaftlichen Nukleus, die Familie beziehungsweise die Eltern beschränkt, sondern muss von der islamischen Gemeinschaft als Ganzem wahrgenommen werden.

Die Familie und vor allem die Kinder sind für den Muslim eine Amana, ein „Anvertrautes“, für das er vor seinem Schöpfer Rechenschaft abgeben muss und wofür er auch gerichtet wird. Das Ziel islamischer Erziehung besteht für die Muslime ganz einfach darin, Menschen zu erziehen, die Allah gehorsam sind und den Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und Frieden geben, lieben und seiner Lebensweise aufrichtig und gemäß dem, was sie davon verstehen, folgen. Dieses aufrechte Nachfolgen seines Weges heißt im Arabischen Istiqama. Hierzu schreibt Schaikh ‘Abdalqadir in seinem Buch „Hundert Stufen“: „Istiqama bringt einen Menschen hervor, der äußerlich dunkel und innerlich hell ist, während die Menschen der scheinbaren Freiheiten äußerlich hell und innerlich dunkel sind. Die Frucht des Istiqama ist Gelassenheit, während die Frucht schrankenlosen Verhaltens Terror ist. Das eine ist Gesundheit, das andere Wahnsinn.“ Dieser Aussage aus der islamischen Wissenschaft der inneren Erfahrung, dem Tassawuf, liegt zugrunde, dass die Existenz in Dualität aufgebaut ist, nämlich als dynamisches Wechselspiel von Gegensätzen. Der im Zitat verwendete Begriff des „Wahnsinns“ meint hierbei keine medizinische Diagnose im modernen Sinn, sondern die Verstrickung der Sinne im materiellen und weltlichen. Für das heranwachsende Kind ruft eine weitgehend schrankenlose Erfahrung seines äußeren Umfeldes, wie sie in modernen, heutigen Erziehungsmethoden leider allzu oft propagiert wird, eine Einengung seines inneren Zustandes hervor; während klar aufgezeigte Grenzen im Äußeren die Entfaltung innerer Weite im Kind ermöglichen.

Man kann bei Kindern, die in ihrem äußeren Verhalten keine Grenzen gesetzt bekommen, eine geradezu verzweifelte Suche nach Grenzen in ihrem scheinbar oft destruktiven Verhalten beobachten. Der Typus der „kleinen Tyrannen“, die ratlosen, verzweifelten Eltern das Leben schwer machen, wird immer häufiger in den Medien thematisiert und scheint längst zur gesellschaftlichen Norm geworden zu sein. Es werden hierbei Begriffe wie „Hyperaktivität“, „ADS-Syndrom“ und ähnliches verwendet. Hierzu möchte ich aus einer Überlieferung des Propheten, möge Allah ihn segnen und Frieden geben. zitieren, wonach eines der Zeichen für die Nähe des Jüngsten Tages darin besteht, dass die Sklavin ihren Herrn gebiert. Weitere dieser Zeichen sind der Ungehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern und wortwörtlich die Herrschaft der Kinder.

Aus innerem islamischen Verständnis ist der Zustand des Kindes nur eine Widerspiegelung des Zustandes der Eltern. Was bei den kindlichen Tyrannen beobachtet werden kann, ist die Energie des gebietenden Selbst, des Nafs Al-Ammara, das sich ungehindert auslebt. Hierauf möchte ich versuchen, im folgenden einzugehen. Für ein Verstehen der Zustände des Menschen aus islamischer Perspektive ist eine Beschreibung der menschlichen Selbsterfahrung notwendig, die ich hier kurz skizzieren möchte. Für uns Muslime hat die menschliche Existenz ihren Ursprung in der Gegenwart ihres Schöpfers in der Welt der Arwah in nichtkörperlicher Form. Durch die physische Geburt tritt der Mensch in die Welt der körperlichen Geschöpfe ein, durchreist diese bis zum körperlichen Tod und kehrt mit dem Tod in die nichtmaterielle, unsichtbare Welt zurück. Der rein geistig-spirituelle Anteil im Menschen heißt auf arabisch „Ruh“. Diese erleuchtete innere Wirklichkeit wird im Verlauf des Lebens getrübt, dadurch, da sich im Menschen die Erfahrung des Selbst, arab. „Nafs“, ausbildet und verfestigt. Im Qur’an werden drei Formen des Selbst geschildert. An-Nafs Al-Ammara: Das gebieterische Selbst. Dies ist der niederste Impuls des menschlichen Selbst, das auf reine unmittelbare Erfüllung aller Triebe und Wünsche erpicht ist. An-Nafs Al-Lawwama: Das vorwurfsvolle Selbst. Das unentschlossen in der Wahl zwischen Falsch und Richtig ist und zu beidem im Stande ist. Dieses Selbst ist unfähig, den Impulsen des niedrigen Selbst zu widerstehen, wenn sie hervorbrechen.

An-Nafs Al-Mutma’inna: Die Nafs im Zustand des Friedens. Hier ist das Selbst reines, erleuchtetes Bewusstsein, und hat göttliches Licht empfangen. Alles Gute gedeiht in seiner Umgebung, denn das niedrige Selbst ist erloschen. Ein solcher Mensch hat den Zustand der völligen Freiheit erreicht.

Wer tieferes Wissen von diesen Angelegenheiten anstrebt, sollte die Gegenwart eines Lehrers aufsuchen, der sich im Zustand des Nafs im Frieden befindet.

Zusätzlich zur Nafs, der Selbstheit, hat gemäß der Aussagen der muslimischen Gelehrten Allah der Erhabene die wie das Nafs ebenfalls unsichtbaren, feinstofflichen Bereiche von Qalb, dem Herzen, und ‘Aql, dem Verstand, erschaffen. Schauen wir nun auf ein neugeborenes Kind, so befindet es sich noch im völligen Einklang mit der göttlichen Wirklichkeit, das heißt es hat noch keine Ich-Erfahrung, auch der Verstand, der ‘Aql ist noch nicht erwacht. Im Laufe seines Heranwachsens bilden sich im Menschengeschöpf die beiden erstgenannten Formen des Selbst (die gebieterische und die vorwurfsvolle Nafs) sowie der Verstand aus. Islam ist der Zustand, in dem die aufbegehrende Energie des Selbst der Erkenntnis unterworfen wird, wer Schöpfer und wer Geschöpf ist. Dies muss bewusst und freiwillig vom erwachsenen Menschen angenommen werden, um Muslim zu sein. Infolge dessen wird Allahs Befehlen gehorcht und ein Weg beschritten, der im Diesseits und im Jenseits zu Frieden und Glück führt. Durch die Einhaltung der islamischen Verpflichtungen, wie zum Beispiel das Gebet, das Fasten und die Zakat ist eine Annäherung an die göttliche Wirklichkeit möglich, die im besten Falle die Umwandlung der Nafs in reinen Geist, Ruh, ermöglicht.

Wie ein Fluss Begrenzung hat, müssen die Energien des kindlichen Selbst kanalisiert werden, das heißt eine angemessene Form finden.

Die vollkommenen und völlig angemessenen Begrenzungen für eine harmonische und würdevolle Form des Menschen sind für uns Muslime die Grenzen Allahs, die er in unserer Religion offenbart hat, durch sein Buch, den Qur’an, sowie durch das menschliche Verhaltensmuster, die Sunna, das heißt die Lebensweise des vollkommenen Menschen, Muhammad (möge Allah ihn segnen und Frieden geben). Über ihn sagt Allah der Erhabene im Qur’an: „Ihr habt im Gesandten Allahs ein vorzügliches Beispiel für den, der auf Allah hofft und auf den jüngsten Tag und der Allahs häufig gedenkt.“

In einer Überlieferung, die in Imam Maliks Muwatta aufgezeichnet ist, überlieferte Jabir, dass der Prophet (möge Allah ihn segnen und Frieden geben) sagte: „Allah der Allerhöchste hat mich gesandt, um den besten Charakter zu vervollkommnen“. Im zweiten Kapitel der Schifa schreibt Qadi ‘Ijad im Zusammenhang mit den vollkommenen Charakterqualitäten des Propheten (möge Allah ihn segnen und Frieden geben) folgendes: „Wir finden, dass andere Leute mit einigen dieser Qualitäten geformt wurden, jedoch nicht mit allen von ihnen. So wird eine Person mit einigen von ihnen geboren, und es wird ihr leicht gemacht, sie mit Allahs Gunst zu vervollkommnen. Wir können dies anhand der Tatsache erkennen, dass Er, Allah ta’ala, einige Kinder mit ausgezeichnetem Benehmen, Klugheit, Wahrhaftigkeit oder Großzügigkeit erschaffen hat, und wiederum andere mit dem Gegenteil davon. Dann können Menschen das erwerben, was das Fehlende vervollständigt. Es geschieht durch Disziplin und Bemühungen, dass sie das erwerben, was ihnen fehlt und das ausgleichen, was im Ungleichgewicht ist. Die Menschen unterscheiden sich gemäß dieser beiden Zustände. Jedem fällt das leicht, wofür er erschaffen wurde. Deshalb gab es bei den Salaf (dies waren die frühen Muslime zur Zeit des Propheten und der ersten Generationen) einige Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Charakterqualitäten angeboren sind oder erworben werden. At-Tabari überlieferte, dass einer der Salaf sagte: ‘Guter Charakter ist angeboren und ein natürlicher Instinkt im Sklaven Allahs’. Er überlieferte dies von Abdullah Ibn Mas’ud und Hassan Al-Basri. Saa’d Ibn Abbi Waqas überlieferte, das der Prophet (möge Allah ihn segnen und Frieden geben) sagte: ‘Der Gläubige kann natürlicher Weise jede Unvollkommenheit des Charakters aufweisen, außer dem Verrat und der Lüge.’ Diese Überlieferung wurde von Imam Ahmad Ibn Hanbal als gesund befunden.“

Um einen guten Charakter im Kind auszubilden, müssen wir die Entwicklungsschritte des Kindes verstehen, zu denen wir Aussagen in den Überlieferungen finden. Wir wissen, das die kindliche Entwicklung in Jahrsiebte eingeteilt ist, und dass das Kind zum Ende des ersten Jahrsiebtes aus der Nähe zur göttlichen Wirklichkeit heraustritt und das Selbst seine Form gewinnt. Damit geht das Erwachen des Verstandes, des ‘Aql, einher. Man könnte sagen, dass die Erfahrungsebene des Göttlichen sich vom Herzen im ersten Jahrsiebt zum Verstand im zweiten Jahrsiebt verlagert. In diesem Zustand erhält das Kind ein Begriffsvermögen, mit dem es aussagekräftig wird und Wissen ansammeln kann. Wir sehen, dass jetzt eine Unterscheidung zwischen Verbotenem und Erlaubten möglich ist, was zum Beispiel für die Verrichtungen der gottesdienstlichen Handlungen eine Voraussetzung darstellt. Nur durch eine vorausgegangene Erziehung beziehungsweise Einübung von Handlungen und Verhaltensmustern kann das Kind im zweiten Jahrsiebt mit Hilfe des Verstandes weitere edle Charakterqualitäten annehmen, die mit der Sunna im Einklang sind. Das Kind, welches bis dahin durch Vorbild und Nachahmung seine Handlungen erproben durfte, wurde von Menschen umgeben, die durch ihre Handlungen lebendige Vorbilder darstellten. Wenn diese zudem noch nachvollziehbare Wissensinhalte weitergaben, so erhält das Kind die Fähigkeit, gesund und gestärkt den Verstand zu gebrauchen. Die Folge ist, dass Zorn und Begierde, welche Formen des gebietenen, niedersten Selbst sind, in Balance gehalten werden können. Die heranwachsenden jungen Menschen können somit Qualitäten wie Ehrhaftigkeit, Tugendhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Weisheit entwickeln.

Ich kann alle Eltern nur ermuntern, in ihrer Erziehung Autorität zu verkörpern und zu erlangen; denn damit steht und fällt die gesamte Angelegenheit der islamischen Erziehung. Das Akzeptieren von Autorität der Eltern und Gehorsam ihnen gegenüber führt dann inscha’Allah zu Gehorsam gegenüber Allah und seinem Gesandten.


Quelle: Islamische Zeitung




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