Islam in Deutschland - auf der Suche nach neuen Perspektiven und Chancen

von Abu Bakr Rieger

Es scheint, als habe der Islam in Deutschland noch immer kein natürliches Verhältnis zur politischen Macht gefunden. Die islamischen Vertreter schwanken daher in ihrem Verhältnis und der Spannbreite ihrer Positionen gegenüber der Bundesregierung zwischen Anbiederung, isolatorischer Ablehnung oder gar feindlichem Mißtrauen. Oft behindern auch Mißverständnisse - vielleicht genährt aus den negativen Erfahrungen aus den jeweiligen Heimatländern - die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen in Deutschland.

Jedenfalls wird auch das Jahr 1995 zu Ende gehen ohne eine relevante und adäquate Vertretung islamischer Interessen gegenüber dem deutschen Staat. Die verschiedenen konkurrierenden Einrichtungen wie auch die unzähligen zumeist selbst ernannten Vertreter des Islams in Deutschland vereint bisher leider nur der politische Mißerfolg. Bisher konnte weder die unlogische Verweigerung des Statuses einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" beendet werden, noch gelang es, den politischen Interessen der Muslime in Deutschland ansonsten gerecht zu werden. Geschickt spielt die Bundesregierung diesen Umstand auch weiterhin aus und versagt die verfassungsrechtlich eindeutig gebotene und überfällige Gleichstellung des Islam mit anderen Religionen in Deutschland. Leidtragende sind die hunderttausenden Muslime in Deutschland, die immer noch in vielen Lebensbereichen alltäglichen Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind. Längst überfällig sind Regelungen für Muslime im Schul- und Arbeitsrecht, im Wahl- und Familienrecht - kurzum in allen politisch relevanten Bereichen.

Ärgerlich ist die Unfähigkeit der bestehenden islamischen Interessenverbände, eine gemeinsame und vereinheitlichte poltische Linie zumindest nach außen schlüssig zu definieren. Insofern ist es daher auch die originäre Aufgabe der deutschen Muslime, die Uneinigkeiten, die oft genug in der unterschiedlichen Herkunft der Beteiligten basieren, überwinden zu helfen. Darüberhinaus wäre eine Vollversammlung der Muslime in Deutschland eventuell ein adäquates Mittel, um sicherzustellen, daß alle Interessen sich entsprechend repräsentiert und vertreten sehen. Bis heute kann keine der islamischen Vertretungen oder Institutionen legitim beanspruchen, für alle Muslime in Deutschland zu sprechen. Die verschiedenen islamischen Zentren sind im Grunde nur lokal anerkannte, allerdings dort oft erfolgreiche und einflußreiche Phänomene. Daraus resultiert aber natürlich nicht automatisch eine allgemeine Vertretungsbefugnis. Zu Recht beschweren sich daher viele Gruppen in Deutschland, daß sie nie zu einer der konstituierenden Sitzungen der Islam-Vertretungen eingeladen worden sind. Mit etwas gutem Willen muß es für alle Muslime möglichst sein einen gemeinsamen Nenner zu finden und gegenüber dem deutschen Staat endlich geschlossen aufzutreten. Daß politische Erfolge nach vereinten Anstrengungen möglich sind, zeigt das Beispiel Österreichs; dort ist der Islam inzwischen längst staatlich anerkannte Lebenspraxis. Keinesfalls sollten die Muslime in Deutschland allerdings nun etwa beginnen, sich gegenseitig zu kritisieren, vielmehr muß aus den Fehlern der Vergangenheit für die gemeinsame Zukunft gelernt werden.

Auch aus anderen Gründen ist eine gewichtige Vertretung der Muslime auf höchster Ebene notwendig. So ist mehr als bedauerlich, daß der Islam in Deutschland keinen eigenen und unabhängigen politischen Einfluß auf die langjährige Untätigkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bosnien- oder auch Tschetschenienkrieg nehmen konnte. Offensichtlich ist auch hier eine ernstzunehmende unabhängige Repräsentanz und Instanz immer noch nicht aufgebaut. Man hätte sich gewünscht, daß das unseelige Treiben in Bosnien entschiedenere Reaktionen und Aktionen unserer Vertreter in Deutschland hervorgerufen hätte. Viele Europäer hätten für den Islam gewonnen werden können. Nicht vergessen darf man allerdings, daß es nach wie vor keine eigene Medienpräsenz des Islams gibt, und insofern beachtliche Schwierigkeiten vorhanden sind, der Stimme des Islam entsprechenden Ausdruck und Nachdruck zu verleihen.

Darüberhinaus könnte ein reger Dialog mit der Bundesregierung aber auch aufzeigen, daß der Islam auch eigene konstruktive Ansätze zur Lösung brennender gesellschaftlicher Fragestellungen zu bieten hat. Warum sollte die Idee einer islamischen, selbstversorgten Madina nicht auch dort faszinieren? Warum sollte nicht das parallel zu denkende Projekt "freier Märkte" als Chance begriffen werden, die sozialen Verwerfungen der Massenarbeitslosigkeit mildern zu helfen? Könnten nicht gerade die Muslime auch im Allgemeinen helfen, unsere Städte vor drohender Verelendung und Verrohung zu retten?

Längst überfällig ist es auch, das Image und Erscheinungsbild des Islam in Deutschland endgültig positiv zu verändern. Es wird Zeit, daß der Islam in den Köpfen der Menschen auch mit Schönheit, Vitalität und Erfolg verbunden wird. Mit Methode wird gerade in den gängigen Medien versucht, mit unterschwelliger Psychologie den Islam immer wieder mit negativen Phänomenen zu verbinden. Deutlich zu machen ist, daß der Islam in Wirklichkeit heute in allen sozialen Schichten zunehmende Akzeptanz und Beachtung findet. Ein beachtlicher Anfang ist bereits gemacht durch den Bau großzügiger und beeindruckender Moscheen - nun müssen Schulen, Märkte und auch Siedlungen folgen.

Die Muslime können vorleben, wie soziale Vielfalt und Toleranz - ihrer jahrhundertelangen Tradition entsprechend - auch in dieser Zeit gelebt werden kann. Der jahrhundertelange fruchtbare kulturelle, geistige und wissenschaftliche Austausch zwischen Europa und dem Islam könnte so endlich in eine neue Ära geleitet werden. Im Grunde wollen auch die Europäer dem amerikanischen Beispiel einer nur auf den losen Banden des Konsums beruhenden Gesellschaft nicht wirklich folgen. Man weiß hier zu genau, daß ohne eine höhere geistige Verbindung der Menschen auf Dauer ein sozialer Frieden in einer sich dramatisch verändernden Welt nicht gewährleistet werden kann. Damit der Islam jedoch in einer solchen Funktion in Europa akzeptiert werden kann, muß er klar und sauber von den Eindrücken und Verfälschungen fremder Kulturen getrennt werden. Hier besteht leider immer noch ein weit verbreitetes und hinderliches Mißverständnis in der Öffentlichkeit.

Darüberhinaus zeigt ein Blick auf die Landkarte und die dramatischen Veränderungen im Osten, daß diese friedliche Zusammenkunft für Europa politisch und wirtschaftlich lebensnotwendig ist. Insofern hat der Bundesaußenminister und seine aktuellen Bemühungen um eine Islam-Konferenz durchaus den Weg in die richtige Richtung aufgezeigt. Allerdings ist dies in einer für Wirtschaftsliberale heute typischen Einseitigkeit aus wirtschaftlichen Fragestellungen und Interessen heraus geschehen. Es ist an uns Muslimen in Deutschland, diesen Austausch aktiv und umfassend mitzugestalten. Die Themen dieses Austausches sind vielfältig, fachübergreifend und immer noch ausbaubar.

Natürlich werden die Muslime allerdings auch den Versuch intellektuell zurückweisen müssen, den Islam immer wieder der banalen Dialektik von Mittelalter und Modernität zu unterwerfen. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist ja auch im Übrigen dem Letzten klar geworden, daß die vielen scheinbar modernen Errungenschaften der Politik und Technik in ihren Auswirkungen gerade einen Rückfall ins Mittelalter gebracht haben. Inzwischen träumt beispielsweise der sogenannte moderne Mensch - durchaus wieder wie sein mittelalterliches Pendant - vom "ewigen Leben" durch die Medizin. Auch hier bedarf es also offensichtlich einer erneuerten übergreifenden Denkkultur. Dem Abendland wird heute bewußt, daß neben der griechischen Kultur auch die islamische Wissenschaft die europäische Kultur entscheidend beeinflußt hat. Der Islam könnte mit seinen vielfältigen Anstößen auch heute erneut helfen, die europäische Kultur zu erneuern und widerzubeleben.

Selbstverständlich sollte der Islam in Deutschland auch künftig nicht als plumpe missionarische Tätigkeit verstanden werden. Aber es muß erlaubt sein, in Europa, zur Zeit einer tiefen sozialen und geistigen Krise, den Islam als überkulturelle Alternative für alle Menschen bekannt zu machen. Viele Alternativen bleiben den Europäern wirklich nicht, nachdem sie zu Recht den verstaubten und antiquierten Versuch der Etablierung einer neuen nationalen Renaissance zurückgewiesen haben. Gleichzeitig ist der Islam heute die einzige Bewegung, die ihrem Wesen nach die entfesselte und bedrohliche neuzeitliche Technik zu stoppen vermag. Warum sollte den Europäer nicht einleuchten, daß der Islam die Schöpfung bewahrt, gerade weil er dem menschlichen Wesen offenbarte Grenzen auferlegt? Gerade das Scheitern der grünen Partei mit ihrem Versuch, eine böse Technik durch eine gute, modernere abzulösen, zeigt, daß die Schöpfung nur durch einen in der Tiefe veränderten Menschen bewahrt werden kann. Hier genügen nicht nur idealistische Parteiprogramme. Die Grünen sind heute letztendlich eine ganz normale integrierte Partei, wenn auch für viele eine Art akzeptable Ersatzreligion - ist es nicht Zeit für eine wirklich authentische grüne Alternative? Dann muß politisch klar gemacht werden, daß der Islam keine neue radikale Staatsreligion will, sondern vielmehr eine einfache Lebenspraxis darstellt, die nur umsoviel mächtiger wird, wie Menschen sie alltäglich praktizieren können und wollen.

Es ist auch klar, daß diese beschriebenen vielfältigen Da¹wa Aktivitäten automatisch und gleichzeitig eine radikale Absage an Terrorismus und Fundamentalismus bedeuten. Beide negativen Phänomene haben zu keinem Zeitpunkt - weder in Europa noch anderswo - wirklich den Islam zu verbreiten versucht. Es wäre eine eigene Geschichte, die tatsächlich abgründige geistige Abhängigkeit dieser Phänomene von der westlich-neuzeitlichen Ideologie aufzuzeigen.

Tatsächlich kommt es darauf an hinzuweisen, daß der Islam Antworten bietet, die für alle Menschen in Deutschland und Europa von vitalem und natürlichem Interesse sind. Immer mehr Menschen spüren, daß die Frage der Gerechtigkeit an uns Europäer mit neuer Wucht gestellt wird und auch beantwortet werden muß. Ansonsten ist der weitere dramatische gesellschaftliche Verfall in Europa nicht aufzuhalten. In dieser Hinsicht ist die geistige und politische Lage wie Grundlage in Deutschland - vor allem nach der Hinfälligkeit der Links-Rechts-Dialektik - recht arm geworden. Hier bestehen einmalige Chancen, den heute abgebrochenen Dialog zwischen europäischer und islamischer Wissenschaft in allen Disziplinen wieder neu aufzunehmen. Zu stark wird der heutige Austausch immer noch von islamischen Wissenschaftler geprägt, die unbefragt, einseitig und oft auch unbemerkt die geistigen Erkenntnisgrundlagen der europäischen Wissenschaft übernommen haben. Das von ihnen in den Medien verbreitete Bild des Islam trügt nur allzuoft.

Der Islam kann tatsächlich - wie wir wissen - praktisch in jedem Lebensbereich eine eigenständige Wissenschaft begründen, nicht zuletzt den heutigen Dialog in Philosophie und Ökonomie, Recht und Politik entscheidend bereichern und beeinflussen. In vielen Bereichen ist der Islam der Schlüssel, um zu begreifen, warum die Wissenschaft heute entweder in eine Sackgasse geraten ist oder aber nur noch Ergebnisse hervorbringt, die die menschliche Spezies fundamental bedrohen. Dies alles berührt insbesondere auch die letzten faszinierenden philosophischen Fragestellungen in Europa. Nachdem Heidegger das Ende der Philosophie und die Einheit des Daseins erklärt hat, drängt sich die Frage auf, ob die freie islamische Lebensform hierfür nicht die eigentliche angemessene Entsprechung ist. Die Heideggersche Philosophie wiederum könnte dem Islam der Neuzeit klar machen, daß der Islam sich selbst mißversteht, wenn er sich als technisches "System" begreift. Gesucht sind Wege ins nächste Jahrtausend - nicht überkommene Erklärungssysteme.

Das islamische Recht hält wiederum die Einsicht lebendig, daß das Recht eben nicht nur ein bloßes staatliches Gesetz ist. Das Qu¹ranische, rechtlich bindende Verbot des Wuchers beispielsweise , muß mit der aristotelischen Einsicht, daß der Wucher ein Grundübel des Gemeinwesens sei, zusammengedacht werden. Liegen hierin nicht die entscheidenden Ansätze für die künftigen Fragestellungen nach einer gerechteren ökonomischen Weltordnung gerade durch den Europäer? Der Islam darf für den Europäer nicht der neue Feind, sondern muß vielmehr die Herausforderung sein, ob er bereit ist, sich geistig, im Einklang mit seiner eigenen Geistesgeschichte und seinem Erbe, zu erneuern. Es muß vor allem Aufgabe der islamischen Vertreter in Deutschland sein, diese Fragen zu formulieren und die Menschen für ihre Beantwortung zu gewinnen - ja zu begeistern. Dies ist der Anspruch, den der Islam - neben allen seinen anderen wichtigen Aufgaben - in der heutigen Gesellschaft zu erfüllen hat. Unsere Vertreter müssen hierzu begeistert sein.

Zu oft entsteht der Eindruck, als habe der Islam nur ein kompliziertes, umstrittenes und schwer verständliches Regelwerk zu bieten. Der Islam ist aber in seiner Regelhaftigkeit zutiefst einfach. Nur wenn er aktiv und echt gelebt wird, bringt er als Zeichen seiner Authentizität eine komplexe, vielfältige soziale Wirklichkeit hervor. Diese soziale umfassende Wirklichkeit muß durch islamische Projekte vorgestellt werden. Der Islam ist keine Feierabend- oder Freitagsreligion, er läßt sich nicht durch langweilige Talkshows begreiflich machen - er ist auch nicht das alleinige Geschäft bezahlter Dozenten. Der Islam ist heute faszinierend für die Menschen, weil er wie sie ein lebendiges und existierendes geschichtliches Phänomen verkörpert.

Seine Grundlage ist der Mensch, der sich seiner Verantwortung gegenüber dem Schöpfer, damit aber auch seiner Grenzen und Zeitlichkeit bewußt wird. Es wäre ein tragischer Fehler, wenn die authentischen und einfachen Ansätze des Islam in Europa zugunsten einer kryptischen und strukturell integrierten Religionswissenschaft verloren gingen.

Die Kraft des Islam liegt allein in seiner tiefen, Kraft spendenden Einfachheit. Dem vergleichenden Religionswissenschaftler oder dem Funktionär bleiben diese geistigen Quellen letzlich unerschlossen. Kein System kann die Lebensgestalt der Muslime je ganz umfassen. Sie sind daher unverzichtbar in einer Zeit, wo der Mensch durch das System des "technischen Fundamentalismus" gefährdet ist, sich seiner Lebensgrundlagen endgültig selbst zu berauben.

Quelle: Islamische Zeitung